Das Beweisstück:
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Entführungsfall Kampusch
Unsere Neugier ist grenzenlos
Von Harald Staun
"Wir waren von Ihrem Brief sehr beeindruckt"
03. September 2006
Sehr geehrte Frau Kampusch,
vor einigen Tagen haben Sie uns einen Brief geschrieben, uns
Journalisten und Reportern, uns, der Weltöffentlichkeit, und bevor
wir versuchen wollen, Ihnen zu antworten, würden wir Ihnen gerne
unsere besten Wünsche übermitteln. Schon dafür fällt es
schwer, die richtigen Worte zu finden. Wir hoffen, es geht Ihnen gut,
nicht nur, wie man zu sagen pflegt, den Umständen entsprechend,
denn was entspricht schon den Umständen, in denen Sie sich zur
Zeit befinden.
Wir waren von Ihrem Brief sehr beeindruckt, von der
Entschlossenheit Ihrer Worte, von der Klarheit ihrer Botschaft an uns.
Sie bitten uns, Sie vor Verleumdungen und Fehlinterpretationen zu
schätzen, vor Besserwisserei und mangelndem Respekt. Sie sind
sich, so schreiben Sie, bewußt, daß wir Ihnen eine „gewisse
Neugier“ entgegenbringen, und versichern uns gleichzeitig, daß Sie
„keinerlei Fragen über intime oder persönliche Details
beantworten“ werden. Sie warnen uns vor der Überschreitung
„voyeuristischer Grenzen“.
Wir sind die Neugier
Wir können diese Wünsche gut verstehen. Sie haben mit
Sicherheit Respekt und Rücksicht in besonderem Maße verdient.
Und die meisten von uns würden persönlich nichts lieber tun, als
Sie in Ruhe zu lassen. Aber „wir“: Das sind eben nicht die einzelnen
Journalisten, die vor Ihrer Tür auf Sie warten, oder vor der Ihrer
Eltern. „Wir“: Das sind nicht die einzelnen Reporter, die um das
Haus streichen und in das Loch kriechen, in dem Sie acht Jahre lang
gefangengehalten wurden. „Wir“ sind die Medien. Wir haben nicht
eine „gewisse Neugier“. Wir sind die Neugier. Und diese Neugier ist
grenzenlos.
Sie appellieren an unsere Moral, und für den Moment mag es so
aussehen, als hätte Ihre Bitte Erfolg. Täuschen Sie sich nicht. Die
Wirkung der Worte, von denen wir nicht einmal wissen, ob es Ihre
eigenen sind, liegt nicht in ihrer Besonnenheit. Die Klugheit Ihres
Briefes war eher eine strategische: Von den Brocken, die Sie uns
hingeschmissen haben, können wir eine Weile leben. Wir machen
uns aus den wenigen Details ein Bild, wir machen aus jedem Satz
eine Geschichte. „Der Lebensalltag“, schreiben Sie, „fand geregelt
statt“ - wir machen daraus eine organisierte Hölle.
Wir machen aus dem Frühstück Fraß und aus der Hausarbeit
Sklaverei. Wir lassen unsere Computer Ihr Gesicht ausmalen, bis es
uns gefällt, und schreiben darüber „So war es wirklich“ oder
„Die ganze Wahrheit“ oder „Die Akte Natascha“. Wir machen aus
Ihrem Brief ein Psychogramm und aus Ihrer Trauer ein Syndrom. Wir
lesen zwischen den Zeilen, bis wir finden, was wir suchen. Wir reden
mit Experten, bis sie sagen, was wir hören wollen.
Wir können keine Ausnahme machen
Wir sind nicht alle so. Wir arbeiten mit den unterschiedlichsten
Mitteln. Wir können weglassen und dazudichten, wir können laute
Schlagzeilen titeln und feine Essays schreiben, wir zeigen
Mitgefühl und Sympathie, aber auch unser Verständnis ist
aufdringlich. Wir können Bedenken formulieren und uns über sie
hinwegsetzen. Wir kommen als Meute oder mit einem freundlichen
Lächeln. Wir bleiben zum Tee und hören zu. Wir warten geduldig,
bis Sie sagen, was Sie nicht sagen wollen. Wir legen Ihnen die Worte
in den Mund, die Ihnen fehlen. Wir stellen Fragen, bis Sie weinen.
Und wenn wir gehen, tauschen wir die Klingelschilder aus.
Sie wollen wissen, warum wir so sind? Warum wir Sie nicht einfach
in Ruhe lassen können, Ihnen Zeit geben, bis Sie die Kraft haben,
Ihre Geschichte zu erzählen? Und im Zweifelsfall sogar akzeptieren,
wenn Sie es vorziehen, zu schweigen? Die raffinierte Antwort lautet:
Wir glauben, daß die Öffentlichkeit ein Recht darauf hat, Ihre
Geschichte zu erfahren - ob Sie das wollen oder nicht. Wir glauben,
daß sie relevant ist, weil sie für einen größeren
Zusammenhang exemplarisch ist, für die Abstumpfung der
Gesellschaft, für das Versagen der Polizei, für neue Formen der
Gewalt - suchen Sie sich was aus.
Vor allem aber fühlen wir uns verpflichtet, die Wahrheit zu
schreiben, gerade wenn sie grausam und schrecklich und unbequem
ist, weil wir glauben, daß die Welt nur noch schlimmer wird, wenn
wir uns nicht mit ihren dunklen Seiten beschäftigen, mit Krankheiten
und Katastrophen, mit Krieg und Verbrechen, mit Mord und
Totschlag. Was würden wir für ein Bild von der Welt
vermitteln, wenn wir all dies einfach verschweigen würden? Es ist
unsere Aufgabe, über die Mißstände in der Welt zu informieren
- und wir können in Ihrem Fall nicht einfach eine Ausnahme machen.
„Du sollst nicht lügen!“
Natürlich gibt es noch eine andere Antwort, denn wenn wir ehrlich
sind, wissen wir längst nicht mehr, was das ist: die Wahrheit. Aber
wir wissen, was die Leute lesen wollen, hören wollen, sehen
wollen. Das reicht uns. Die Leute wollen das Neue, das Dramatische,
das Ungewöhnliche, sie wollen den Eklat und den Skandal. Wir
wissen nicht, warum, aber wir können nichts dagegen tun. Das
Gesetz unseres Berufs heißt nicht: „Du sollst nicht lügen!“ Es
heißt: „Du sollst nicht langweilen!“
Das Seltsame dabei ist: Wir lieben das Spektakuläre und das
Besondere, das nie Dagewesene, das Wahnsinnige; das
Unbegreifliche aber akzeptieren wir nicht. Wir wollen einordnen,
werten, analysieren: das ist unser Job. Und dazu brauchen wir stabile
Kategorien: das Gute, das Böse, den Sieger, den Verlierer, das
Opfer, den Täter. Es gibt Dinge, die können wir nicht verstehen,
aber das ist kein Grund, sie nicht zu erklären.
Was Sie betrifft, Frau Kampusch: Natürlich können wir uns nicht
vorstellen, wie Sie sich all die Jahre lang gefühlt haben. Was es
für ein Leben war, in „Ihrem Raum“, unter der Erde. Wenn es
stimmt, was Sie schreiben, daß Sie heranwuchsen „zu einer jungen
Dame mit Interesse an Bildung und auch an menschlichen
Bedürfnissen“; wenn es stimmt, was wir von Ihnen hören, daß
die Isolation Sie nicht zu einem geistig und sozial verstörten Wesen
gemacht hat, daß Sie sich im Gegenteil als „klug, eloquent und sehr
gebildet“ erweisen und sogar mittlerweile bei Ihrer Befragung mit
den Beamten scherzen: Dann ist darüber jeder einzelne von uns
sehr erleichtert.
Wie schrecklich das klingt
Aber Ihre Stärke irritiert uns. Sie stellt unser ganzes Weltbild in
Frage. Sie relativiert die Grausamkeiten, die Sie erlitten haben. Wir
können diese Grausamkeiten bisher nur erahnen; aber wir werden
Ihnen nicht glauben, wenn sie unsere Erwartungen an Drastik nicht
erfüllen. Wir brauchen keine Opfer, die verzeihen. Wir
interessieren uns nicht für Monster mit menschlichen Zügen.
Es gibt einen beunruhigenden Verdacht, der aus Ihren Zeilen spricht,
einen Verdacht, der ungeheuerlicher ist als jede Grausamkeit, die wir
uns vorstellen können: der Verdacht nämlich, daß selbst in Ihrer
unvergleichlichen Situation so etwas wie Normalität möglich war.
Denn wenn es etwas gibt, das wir nicht akzeptieren können, dann ist
das Normalität. „Hausarbeit, lesen, Fernsehen, reden, kochen“, so
schildern Sie Ihren Alltag, „Das war es, jahrelang. Alles mit Angst
vor der Einsamkeit verbunden.“ Wie schrecklich das klingt. Wie
schrecklich banal. Wie viele Leben, glauben Sie, ließen sich so
zusammenfassen? Wenn es eine Grausamkeit gibt, die wir noch
weniger wahrhaben können als die Mißhandlungen, die wir uns
ausmalen, die Intimitäten, über die Sie nicht reden wollen, dann
ist es dieser Terror der Banalität. Wir haben viel Phantasie. Aber
wir können nicht glauben, daß die Qualen des Alltags Ihre
größten waren.
Ihre Freiheit heißt Öffentlichkeit
Sie hatten gehofft, daß außerhalb Ihres Gefängnisses die
Wirklichkeit wartet; jetzt stehen dort Kameras und Reporter. Die
Flucht vor ihnen führt Sie erneut in die Isolation. Sie wollen nicht
an die Öffentlichkeit, aber Sie haben keine Wahl: Ihre Freiheit
heißt Öffentlichkeit. Ihre Geschichte ist unsere Geschichte.
Sie waren alleine, mit Ihrem Entführer. Sie waren alleine, mit
Ihrem Fernseher und mit den Zeitungen, die Sie bekamen. Sie waren
alleine mit uns. Ihr Gefängnis war auch ein Gefängnis der Medien.
Acht Jahre lang haben wir Ihnen die Welt erklärt, unsere Lügen
wurden Ihre Wahrheiten, unsere Fiktionen Ihre Wirklichkeit. Und
vermutlich ist es das, was wir am wenigsten verstehen: Daß Sie
nach dieser Zeit mit uns überhaupt noch denken können, sprechen
können, kommunizieren können.
Sie kennen uns besser als wir Sie. Wir können Ihnen nur
wünschen, daß das so bleibt, alles Gute,
die Medien.
(i.V. Harald Staun)
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Man muß auch schweigen können.(TNT im Forum der CDU)