Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode
Drucksache 19/ 16430
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Abb. 2.12 Anzahl der Wirkstoffe, die in bestimmten Konzentrationsbereichen in den aufgeführten wässri-
gen Kompartimenten gefunden wurden
70
61
60
50
40
35
35
30
20
22
20
15
13
8
10
0
0
0,1–1,0 μg/l
< 0,1 μg/l
> 1,0 μg/l
Konzentrationsbereich
Oberflächenwasser
Quelle:
Bergmann et al. 2011
Grundwasser
Trinkwasser
Fa
mehr oder weniger unvollständige Elimination in der Abwasserreinigung und ihre Persistenz in der Umwelt.
Diverse Arzneistoffe aus Humanarzneimitteln haften zudem, wie bereits erwähnt, an Klärschlamm. Beispiels-
weise wurden im Schlamm Spitzenwerte von 3,5 μg/kg Trockenmasse des Antibiotikums Ciprofloxacin fest-
gestellt (Golet et al. 2003).
In einer aktuellen Übersichtsarbeit mit Fokus auf Großbritannien sind neuere Funde von Arzneistoffen in
Abwasserkompartimenten zusammengefasst (Petrie et al. 2015). Auch hier wurden diverse pharmazeutische
Wirkstoffe in Konzentrationen bis zu mehreren μg/l im Zulauf von Kläranlagen identifiziert. Eine maximale
Konzentration von 492 μg/l wurde für das Schmerzmittel Paracetamol gemessen. Paracetamol wird jedoch in
der Kläranlage gut eliminiert, sodass am Ablauf der Anlage die Konzentrationen nur noch bis zu 11 μg/l betru-
gen. Alle anderen pharmazeutischen Wirkstoffe außer dem Epilepsiemittel Gabapentin (21 μg/l) fanden sich
am Ablauf nur noch im unteren μg/l- oder ng/l-Bereich. In Oberflächengewässern beliefen sich die maximal
gemessenen Konzentrationen außer für wenige Arzneistoffe (Gabapentin, Ibuprofen, Paracetamol, Theophyllin,
Tramadol) auf unter 1 μg/l.
Die Konzentrationen von Arzneimittelrückständen in Flüssen und Meeren sind aufgrund der Verdünnung
fast immer geringer als in den Kläranlagenabläufen (Nödler et al. 2010; Trautwein et al. 2014; Writer et al.
2013). Bergmann et al. (2011) fassten in einer Studie für das UBA öffentlich verfügbare Monitoringdaten zu-
sammen. Unter anderem wurden Arzneistoffmessungen in verschiedenen Umweltkompartimenten in Europa,
darunter auch Deutschland, berücksichtigt. Bei 156 von 192 untersuchten Human- und Tierarzneimitteln lag
nach der Recherche mindestens ein Positivbefund in einem Umweltkompartiment vor. In Böden wurden fast
ausschließlich Arzneistoffe festgestellt, die in der Veterinärmedizin eingesetzt werden. In den Wasserkompar-
timenten gab es hingegen Stoffe sowohl aus der Human- als auch aus der Veterinärmedizin. Die Anzahl der
gemessenen Wirkstoffe, aufgeschlüsselt nach verschiedenen Wasserkompartimenten, zeigt Abbildung 2.12.
Gómez et al. (2006) untersuchten Krankenhausabwässer und fanden darin Antibiotika, Betablocker und
Schmerzmittel in Konzentrationen von bis zu 150 μg/l. Krankenhäuser haben in der Regel keine gesonderten
Kläranlagen, sondern sind gemeinsam mit anderen Verbrauchern an kommunale Kläranlagen angeschlossen.
Auf dem Weg dorthin werden die Krankenhausabwässer mit anderen kommunalen Abwässern vermischt und
dabei verdünnt (meist im Verhältnis von ca. 1 : 100), sodass sich in den Kläranlagenzuläufen nur noch weitaus
niedrigere Konzentrationen nachweisen lassen als direkt in den Abläufen von Krankenhäusern (Ort et al. 2010).Drucksache 19/ 16430
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Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode
2.3.2
Tierarzneimittel
Arzneimittel aus dem Veterinärbereich können sowohl in Ausscheidungsprodukten behandelter Tiere als auch
in verschiedenen Umweltkompartimenten regelmäßig nachgewiesen werden. So finden sich beispielsweise ver-
schiedene antibiotische Wirkstoffe in Dünger, Boden, Oberflächen- und Grundwasser (Küster et al. 2013). Zu-
dem wurden auch in Gärrestproben aus Biogasanlagen Antibiotikarückstände nachgewiesen, woraus geschlos-
sen werden kann, dass die Vergärung von Wirtschaftsdünger nicht generell zu einer vollständigen Elimination
der Antibiotika führt (Ratsak et al. 2013). Auch für andere Wirkstoffe dürfte dies zutreffen.
Aus einer Zusammenstellung des UBA zu gemessenen Umweltkonzentrationen von Arzneimitteln (Berg-
mann et al. 2011) geht hervor, dass bis 2011 in Deutschland 21 verschiedene Wirkstoffe bzw. Metaboliten in
Dung oder Gülle nachgewiesen wurden. Die maximalen Konzentrationen lagen hier typischerweise im Bereich
von μg/kg bis mg/kg Trockensubstanz mit einem Spitzenwert von 203,3 mg/kg für das Antibiotikum Chlortetra-
cyclin (Bergmann et al. 2011). Insgesamt bestätigen die Daten die Annahme aus der Verbrauchsmengenanalyse,
dass überwiegend Antibiotika, aber in Einzelfällen auch andere Stoffe anderer Wirkstoffgruppen wie z. B. An-
tiparasitika eine Rolle spielen. Im Boden wurden bisher insgesamt zehn pharmazeutische Wirkstoffe entdeckt,
überwiegend Antibiotika (z. B. Tetracycline, Sulfonamide, Chinolone) mit tiermedizinischer Anwendung. Zu-
dem gab es auch vereinzelte Funde eines Antiparasitikums (Ivermectin) und eines Wachstumsförderers
(Olaquindox). Auch hier lagen die Maximalwerte im Bereich von μg/kg bis mg/kg Trockensubstanz. Die
höchste gemessene Konzentration im Boden wurde mit 3,8 mg/kg für das Antibiotikum Enrofloxacin angege-
ben (Bergmann et al. 2011).
Bisher wurden nur vereinzelt Veterinärarzneimittelrückstände in Oberflächengewässern gemessen. Das
Landesamtes für Natur, Umwelt und Verbraucherschutz Nordrhein-Westfalen (LANUV 2007) berichtet in sei-
ner Studie aus dem Jahr 2007 von insgesamt vier tiermedizinischen Wirkstoffen, allesamt Antibiotika, die nach-
weislich in Konzentrationen über 0,01 μg/l in Oberflächengewässern vorkommen. Die maximale Konzentration
wurde für das Antibiotikum Tetracyclin mit 1 μg/l gefunden (LANUV 2007).
Das Grundwasser ist ebenfalls nachweislich mit Veterinärantibiotika belastet. So wurden innerhalb dersel-
ben Studie die antibiotischen Wirkstoffe Tetracyclin (max. 0,13 μg/l), Sulfadimidin (max. 0,16 μg/l) und Sul-
fadiazin (max. 0,017 μg/l) nachgewiesen (LANUV 2007). Das UBA (2014c) bestätigt in einer Monitoringstudie
ebenfalls, dass Antibiotika und Antiparasitika vereinzelt im Grundwasser an Standorten mit hoher Viehbesatz-
dichte vorkommen. An 39 von 48 Messstellen wurden keine der in der Studie berücksichtigten Wirkstoffe nach-
gewiesen, an 7 Messstellen in Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen hingegen Wirkstoffe aus der Gruppe
26
27
Vgl. auch den Überblicksartikel von Capdeville/Budzinski 2011, in dem Studien zu Deutschland, USA, Kanada, Frankreich, Spa-
nien und Israel ausgewertet wurden.
Vgl. Reddersen et al. 2002 und Ergebnisse, die im Rahmen eines vom Hessischen Landesamtes für Naturschutz, Umwelt und
Geologie im März 2017 veranstalteten Symposiums vorgetragen wurden (
www.hlnug.de/?id=11960 [15.9.2019]).
Fa
Die höchsten in Deutschland gefundenen Konzentrationen in Oberflächengewässern stammen von schwer ab-
baubaren und durch Kläranlagen kaum zu beseitigenden Röntgenkontrastmitteln. Die Werte reichen nicht selten
bis zu 100 μg/l (Ternes/Hirsch 2000). Jedoch bewegen sich die Konzentrationen der meisten Arzneistoffe in
Oberflächengewässern in Bereichen zwischen 0,1 und 1 μg/l.
Arzneistoffe werden auch im Grundwasser (Sacher et al. 2001) und in Trinkwasserressourcen (Reddersen
et al. 2002) gefunden.26 Die Konzentrationen von Arzneimittelrückständen im Grundwasser und im Rohwasser
von Wasserwerken sind zwar vielerorts noch niedrig oder unterhalb der Nachweisgrenze, es gibt aber einige
Regionen wie z. B. das hessische Ried oder Berlin, in denen einige der gemessenen Konzentrationen an Grenz-
werte herankommen oder sie bereits überschreiten. In Hessen sind mittlerweile an 24 Grundwassermessstellen
jeweils bis zu 66 verschiedene Spurenstoffe nachgewiesen worden.27 Die höchsten Konzentrationen im Roh-
wasser von Wasserwerken waren diejenigen von Analgetika (Propyphenazon, Naproxen), Röntgenkontrastmit-
teln (Iopamidol) oder Lipidsenkern (Fenofibrat). Sie bewegten sich zwischen 0,1 und 1 μg/l. Andere Schmerz-
mittel (Diclofenac, Ibuprofen), das Antibiotikum Sulfamethoxazol oder das Benzodiazepin Diazepam wurden
im Trinkwasser mit Konzentrationen unter 100 ng/l gefunden (Bergmann et al. 2011). Trautwein et al. (2014)
wiesen das Antidiabetikum Metformin im Trinkwasser nach.
Zu beachten ist auch, dass in Deutschland etwa ein Drittel des Trinkwassers aus Oberflächengewässern,
Uferfiltrat oder angereichertem Grundwasser gewonnen wird. Dieses enthält im Vergleich zum Grundwasser
zumeist höhere Konzentrationen und eine größere Anzahl an nachweisbaren Arzneistoffen. Noch immer liegen
aber die durch den Menschen mit dem Trinkwasser aufgenommenen Mengen weit unterhalb solcher, die für
therapeutische Zwecke verabreicht werden. Ob hiervon dennoch langfristig eine Gefährdung für Menschen aus-
geht, wird im Kapitel 3 beschrieben.Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode
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Drucksache 19/ 16430
2.4
Fazit
Insgesamt werden deutlich mehr Humanarzneimittel als Tierarzneimittel verbraucht. 2012 wurden 8.120 t Hu-
manarzneistoffe abgegeben, wobei die Tendenz steigend ist. Wenige Wirkstoffe haben dabei einen besonders
hohen Anteil. Die Verbrauchsmengen der fünf Wirkstoffe Metformin, Ibuprofen, Metamizol, Acetylsalicyl-
säure und Paracetamol machten 2012 zusammengenommen rund die Hälfte der insgesamt abgegebenen Menge
an Arzneistoffen aus.
Im Bereich der Tierarzneimittel werden nur die Abgaben von Antibiotika und einigen anderen ausgewähl-
ten Wirkstoffen amtlich erfasst. 2015 waren es 805 t Antibiotika mit sinkender Tendenz. Schätzungen des Ge-
samtverbrauchs an Tierarzneimitteln bei Nutztieren sind nicht sehr zuverlässig und aus dem Heimtierbereich
liegen auch keine belastbaren Daten vor.
Arzneimittelrückstände aus der Humanmedizin gelangen typischerweise über das Abwasser in Kläranla-
gen und, weil sie dort nur teilweise eliminiert werden, in die Oberflächengewässer. Arzneimittelrückstände aus
der Veterinärmedizin kommen hingegen mit der Gülle und dem Dung aus Ställen oder bei Weidehaltung meist
direkt auf Weiden, Wiesen und Äcker. Von dort führt ihr Weg in Böden und Grundwasser oder in Oberflächen-
gewässer. Durch den Wasserkreislauf sind die verschiedenen Umweltkompartimente miteinander verbunden.
Dadurch werden die Wasser-Arzneistoff-Gemische einerseits verdünnt, andererseits gelangen die Stoffe nach
und nach auch an entfernte Orte. Noch gibt es Messstellen, an denen keine Nachweise erfolgt sind. Allerdings
verbreiten sich Arzneistoffe in der Umwelt in Deutschland derart, dass selbst im Grundwasser schon Rückstände
gemessen werden konnten.
In einem Kläranlagenzulauf wurde der Spitzenwert von 492 μg/l für das Schmerzmittel Paracetamol ge-
messen, das aber in der Kläranlage größtenteils abgebaut wird. Im Ablauf von Kläranlagen werden Wirkstoffe
häufig noch in Konzentrationen von bis zu 10 μg/l gefunden. In den Oberflächengewässern, in die die Kläran-
lagen einleiten, werden die Stoffe dann in der Regel verdünnt, sodass sich die Konzentrationen meist um min-
destens die Hälfte verringern. Veterinärarzneimittelrückstände wurden in Oberflächengewässern nur vereinzelt
nachgewiesen. Im Rohwasser von Wasserwerken sind die Konzentrationen von Arzneimittelrückständen zwar
in der Regel sehr niedrig oder unterhalb der Nachweisgrenze, es gibt in einigen Regionen aber auch Ausnahmen
und Handlungsbedarf (Kap. 2.3.1).
Fa
der Sulfonamide (Antibiotika) in sehr niedrigen (wenige ng/l) und an 2 Messstellen in denselben Ländern in
sehr hohen Konzentrationen von über 100 ng/l (UBA 2014c).FaDeutscher Bundestag – 19. Wahlperiode
Drucksache 19/ 16430
Auswirkungen von Arzneimittelrückständen auf Gesundheit und Umwelt
Arzneimittel sind chemische Stoffe, die sich gerade dadurch auszeichnen, dass sie biologisch hochaktiv sind.
Insbesondere Antibiotika, Antiparasitika, Antimykotika und ein großer Teil der Krebsmedikamente sind darauf
ausgerichtet, ihren Zielorganismus oder die Zielzellen abzutöten. Hormonhaltige Medikamente greifen in den
Steuerungsmechanismus von Organismen ein. Wie wirken diese Stoffe, wenn sie – stark verdünnt – über das
Trinkwasser oder über andere Wege unbeabsichtigt von Menschen aufgenommen werden? Wie wirken niedrige
Dosen über lange Zeiträume? Welche Gefahren bestehen für Kinder oder für alte und kranke Menschen? Kön-
nen Antibiotikarückstände in der Umwelt unter Umständen zu Antibiotikaresistenzen führen und damit die Be-
handlungsmöglichkeit von Infektionserkrankungen einschränken? Wie wirken Arzneimittelrückstände auf die
Umwelt? Welche Schäden verursachen sie in Einzelorganismen und Lebensgemeinschaften?
Diese und ähnliche Fragen werden im Folgenden aufgegriffen. In diesem Kapitel wird sich den nachge-
wiesenen, vermuteten und befürchteten Wirkungen von Arzneistoffen im Trinkwasser und Gewässern auf die
Gesundheit von Menschen und auf die aquatische Umwelt gewidmet. Zunächst wird in Kapitel 3.1 beschrieben,
mit welchen Methoden Aussagen über eventuelle schädliche Wirkungen von Stoffen in der Umwelt auf Men-
schen (humantoxische Wirkungen) oder auf andere Organismen (ökotoxische Wirkungen) gewonnen werden
können. Dazu werden einige Grundbegriffe der Toxikologie erläutert. Daraufhin werden in Kapitel 3.2 empiri-
sche Nachweise, Hinweise und begründete Befürchtungen zusammengetragen, denen zufolge Arzneimittel-
rückstände sich negativ auf die Gesundheit einzelner Menschen und auf die öffentliche Gesundheit auswirken.
Mit öffentlicher Gesundheit ist der Gesundheitsstand der Bevölkerung insgesamt gemeint sowie die Fähigkeit
der Gesellschaft, Gesundheit zu fördern und Krankheiten zu behandeln. In Kapitel 3.3 werden die empirischen
Hinweise für negative Wirkungen auf die Umwelt gesammelt. Insgesamt wird in diesem Kapitel ein Überblick
über wissenschaftliche Studien aus den Bereichen Epidemiologie, Toxikologie, Ökotoxikologie und Ökologie
gegeben. Dargestellt werden sowohl Evidenzen als auch Risikoabschätzungen und Unsicherheitsbetrachtungen,
Wissenslücken und Forschungsbedarfe. In Kapitel 3.4 werden die Ergebnisse des Kapitels zusammengefasst.
3.1
Methodische Ansätze zur Vorhersage und
Bewertung potenziell negativer Auswirkungen
Es ist grundsätzlich schwierig, die Nebenwirkungen des Verbrauchs an Arzneimitteln für die Umwelt oder deren
Rückwirkungen auf den Gesundheitszustand einzelner Betroffener oder der Bevölkerung insgesamt abzuschät-
zen. Selbst wenn es Hinweise auf toxische Wirkungen aus Laborversuchen gibt, gelingt es nur sehr selten,
beobachtete Phänomene ursächlich auf einzelne Schadstoffe zurückzuführen. Ein wichtiger Grund hierfür ist
die hohe Anzahl unterschiedlicher in der Umwelt vorhandener Arzneistoffe sowie anderer Schadstoffe und Ein-
flussfaktoren. Effekte in der Umwelt oder bei Menschen sind typischerweise das Ergebnis eines komplexen
Zusammenspiels vieler verschiedener Faktoren; man spricht in der Ökotoxikologie von multiplen Stressoren.
Es kann vorkommen, dass sich die Stressoren gegenseitig abschwächen, aber eben auch, dass sie sich verstär-
ken, sodass es notwendig ist, die Wechselwirkungen näher zu betrachten. Bei der Vorhersage der Wirkung von
Arzneimittelrückständen in Trinkwasser und Gewässern auf den Menschen kommt noch hinzu, dass lange Zeit-
räume und vielfältige Typen von Auswirkungen, also etwa chronische Effekte oder Veränderungen des Erbgu-
tes, betrachtet werden müssen.
3.1.1
Grundbegriffe der Toxikologie
Toxizität bezeichnet die Giftigkeit oder Schädlichkeit eines Stoffes für einen Organismus. Wenn es sich um
einen menschlichen Organismus handelt, spricht man dementsprechend von Humantoxizität. Ökotoxizität be-
zieht sich hingegen auf nichtmenschliche Lebewesen und deren Populationen in der Umwelt. Man unterscheidet
zwischen akuter Toxizität, der schädigenden Wirkung nach einer Einzeldosis, und chronischer Toxizität, der
Wirkung bei anhaltender Exposition.
Bei Untersuchungen der Toxizität wird erstens geprüft, welchen Dosen des betrachteten Stoffes der Orga-
nismus über welchen Zeitraum ausgesetzt ist, und zweitens, welche Wirkungen hierdurch ausgelöst werden.
Dabei wird in der Regel versucht, andere Umgebungseinflüsse auszuschalten oder zumindest zu kontrollieren,
um den vermuteten Kausalzusammenhang zwischen Dosis und Wirkung möglichst isoliert beobachten zu kön-
nen. Unter Dosis versteht man die Menge eines Stoffes, die einem Organismus (einmalig oder mehrmalig) zu-
geführt wird. Mit Wirkung kann sowohl der beabsichtigte Effekt eines Stoffes – bei Medikamenten etwa die
therapeutische Wirkung – als auch eine unbeabsichtigte Schad- oder Nebenwirkung gemeint sein. Bei Toxizi-
tätsuntersuchungen werden Schadwirkungen gemessen. Das können Todesfolgen sein, aber auch das Auslösen
von Krebserkrankungen (bei kanzerogenen Stoffen), eine Veränderung des Erbguts (bei mutagenen Stoffen)
Fa
3
– 41 –Drucksache 19/ 16430
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Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode
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›
›
Toxic Dose Low (TD LO ): die geringste Dosis, die zu einem schädlichen oder unerwünschten Effekt führt;
Lethal Dose (LD): die geringste Dosis, die zum Tod eines Organismus führt;
Effective Dose 50 % (ED 50 ): Dosis, die bei 50 % der im Versuch beobachteten Population eine Wirkung
auslöst;
Median Lethal Dose (LD 50 ): Dosis, bei der 50 % aller Versuchstiere sterben;
No Observed Effect Level (NOEL): höchste Menge eines Stoffes, die auch bei andauernder Aufnahme
keine beobachtbaren Wirkungen hinterlässt.
Bei gasförmigen chemischen Verbindungen oder bei im Wasser oder Boden lebenden Organismen ist es in der
Regel sinnvoller, bei der Beschreibung und Festlegung der Endpunkte statt von einer Dosis von der Konzent-
ration eines Stoffes zu sprechen, der die untersuchten Organismen über eine gewisse Zeit ausgesetzt sind. Die
in der Aufzählung genannten Endpunkte ändern sich entsprechend: Beispielsweise spricht man von Median
Lethal Concentration (LC 50 ), der Letalkonzentration in Wasser, Boden oder Luft, bei der 50 % der Versuchsor-
ganismen innerhalb eines bestimmten Beobachtungszeitraumes sterben, oder von No Observered Effect Con-
centration (NOEC), der höchsten Konzentration eines Stoffes, bei der sich noch keine Wirkung einstellt.
Um die Toxizität von Stoffen für Menschen herauszufinden, werden in der Regel Tierversuche unternom-
men. Es wird versucht, von den Ergebnissen der Tierversuche auf die Wirkung auf Menschen zurückzuschlie-
ßen. Dazu werden theoretische Modelle, statistische Datenauswertungen, Computersimulationen und Ähnliches
eingesetzt. Weil man sich bewusst ist, dass der Rückschluss fehlerbehaftet sein kann, werden bei der Bestim-
mung von Grenzwerten in der Regel Sicherheitsmargen aufgeschlagen. Von der Organisation for Economic Co-
operation and Development (OECD o. J.) wurden Richtlinien für die Bestimmung der Toxizität von Stoffen
erarbeitet, auf die beispielsweise auch die Verordnung (EG) Nr. 1907/200629 zurückgreift. Es gibt verschiedene
Maße für die Beschreibung der Gefährdung, die von einem Stoff ausgeht. Einige prominente Beispiele für Ri-
sikobewertungskonzepte sind:
›
›
28
29
30
Margin of Safety (MoS): Der MoS-Wert wird für Stoffe benutzt, die eine klare Wirkschwelle besitzen, d. h.,
die erst ab einer gewissen Dosis bzw. Konzentration einen toxischen Effekt haben. Der MoS-Wert ist defi-
niert als das Verhältnis aus der Dosierung, ab der im Tierexperiment ein Effekt festgestellt wird, dem so-
genannten Point of Departure (PoD), und der Exposition: MoS = PoD/Exposition. Je kleiner der Quotient
ist, desto größer ist das Gesundheitsrisiko. Einige EU-Länder sehen einen MoS-Wert kleiner 50 als kritisch
an, andere bereits einen MoS-Wert kleiner 100 (Lohs et al. 2009, Stichwort MoS-Werte). Diese Schwellen
sind Konventionen, also von einer Gesellschaft vorgenommene normative Setzungen; sie können grund-
sätzlich nicht naturwissenschaftlich begründet werden.30
Margins of Exposure (MoE): MoS und MoE sind ähnlich und werden zuweilen fälschlicherweise ver-
mischt. Im Gegensatz zum MoS wird der MoE für Stoffe eingesetzt, die keine Wirkschwelle haben, wie
z. B. mutagen kanzerogene Substanzen, also Stoffe, die Krebs auslösen können, indem sie das Erbgut ver-
ändern. Schon kleinste Konzentrationen können einen Schadeffekt auslösen, wenn auch nur mit einer ge-
ringen Wahrscheinlichkeit. Die Berechnungsformel des MoE ist die gleiche, allerdings wird der PoD anders
siehe auch
https://de.wikipedia.org/wiki/Toxizit%C3 %A4tsbestimmung (15.9.2019)
zur Registrierung, Bewertung, Zulassung und Beschränkung chemischer Stoffe (REACH), zur Schaffung einer Europäischen
Chemikalienagentur, zur Änderung der Richtlinie 1999/45/EG und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 793/93, der Ver-
ordnung (EG) Nr. 1488/94, der Richtlinie 76/769/EWG sowie der Richtlinien 91/155/EWG, 93/67/EWG, 93/105/EG und
2000/21/EG
Auch wenn eine solche normative Setzung nicht völlig objektiv sein kann, ist sie dennoch auch nicht willkürlich. Sie erfordert
notwendigerweise ein (ethisches) Urteil, das von anderen Menschen Zustimmung, aber auch Kritik erhalten kann (Klauer et al.
2013, Kap. 7).
Fa
oder eine Störung der Fortpflanzung (bei reproduktionstoxischen Stoffen). In der Ökotoxikologie werden neu-
erdings zunehmend auch subletale Wirkungen betrachtet, wie etwa eine verringerte Bewegungsaktivität oder
eine Hemmung der Atmungsaktivität bei den Versuchsorganismen.
Es gibt verschiedene Ansätze zur Messung von Dosis-Wirkungs-Beziehungen. In diesen Ansätzen werden
sogenannte Endpunkte definiert. Endpunkte sind Parameter, deren Bestimmung das Ziel (öko)toxikologischer
Untersuchungen ist und die letztlich der Risikobewertung von Stoffen dienen. Einige Beispiele für Endpunkte
sind:28Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode
Drucksache 19/ 16430
definiert: MoE = PoD/Exposition. Im Gegensatz zum MoS ist beim MoE bereits der PoD eine Konvention
und keine naturwissenschaftlich beobachtete Wirkschwelle. Beispielsweise wird oft bei mutagen kanzero-
genen Stoffen als PoD die Dosis genommen, die bei 25 % der Tiere zu einem Tumor geführt hat. Weil sich
beim MoE keine Wirkschwelle angeben lässt, wird typischerweise eine deutlich höhere Sicherheitsmarge
als bei MoS verwendet. Ein Stoff gilt normalerweise bereits als bedenklich, wenn der Quotient kleiner 1.000
liegt. Für Stoffe, die sowohl kanzerogen als auch genotoxisch sind, empfiehlt das Scientific Committee der
European Food Safety Authority (EFSA2012) sogar eine Schwelle von 10.000.
Acceptable Daily Intake (ADI, duldbare tägliche Aufnahmemenge):31 ADI bezeichnet die Dosis eines
Stoffes, die auch bei lebenslanger täglicher Einnahme als unbedenklich eingeschätzt wird. ADI ist damit
also ein Maß für die chronische Toxizität eines Stoffes. Er wird in der Regel in mg oder μg pro kg Körper-
gewicht angegeben. Wechselwirkungen mit anderen Stoffen werden bei der Berechnung des ADI nur teil-
weise berücksichtigt.32 Wenn es keine klare Wirkschwelle gibt, so ist bei der Bestimmung des ADI – ähn-
lich wie beim MoE – eine normative Setzung und gesellschaftliche Konvention erforderlich.
MoS und MoE können sowohl für akute wie auch für chronische Wirkungen bestimmt werden. Bei der Berech-
nung des MoE für chronische Wirkungen wird typischerweise der ADI als PoD verwendet.
3.1.2
Das PEC/PNEC-Risikobewertungskonzept
Unternehmen, die Humanarzneimittel herstellen, müssen seit dem 1. Dezember 2006 im Rahmen des Zulas-
sungsverfahrens neuer Medikamente eine Umweltrisikobewertung (Environmental Risk Assessment [ERA])
vornehmen. Die Anforderungen an die Umweltrisikobewertung sind in einem Leitfaden der European Medici-
nes Agency33 (EMA 2006) niedergelegt. Der Leitfaden legt fest, welche Arzneimittel einer Umweltrisikobe-
wertung unterzogen werden müssen, beschreibt die Prüfstrategie und den Prüfumfang und gibt die konkreten
Datenanforderungen für Umweltexposition, Verbleib und Verhalten des Wirkstoffes in der Umwelt sowie zu
dessen Ökotoxizität vor.34 Es gibt zwei Phasen, die das Vorgehen der Umweltrisikoprüfung kennzeichnen. Sie
sind schematisch in Abbildung 3.1 dargestellt.
1. In Phase I erfolgt eine generelle, grobe Expositionsabschätzung. Ziel ist es, auf einfache Weise unproble-
matische Stoffe zu identifizieren, für die dann keine tiefer gehende Prüfung notwendig ist. Dazu wird die
maximal zu erwartende Umweltkonzentration (Predicted Environmental Concentration [PEC]) berechnet.
In die Berechnung fließen die maximale Tagesdosis, der
31 Der ADI ist vergleichbar mit dem Tolerable Daily Intake (TDI). Letzterer wird aber nur im Zusammenhang mit der Aufnahme
von Stoffen verwendet, die nicht absichtlich zugesetzt wurden, wie z. B. Verunreinigungen in Lebens- oder Futtermitteln.
https://de.wikipedia.org/wiki/Erlaubte_Tagesdosis (15.9.2019)
Bis 2010 hieß die Behörde European Agency for the Evaluation of Medicinal Products – EMEA.
Vitamine, Elektrolyte, Proteine, Kohlenhydrate und Lipide müssen z. B. nicht untersucht werden, da von ihnen kein Einfluss auf
die Umwelt zu erwarten ist. Die Richtlinien besagen auch, dass Arzneimittel, die vor diesem Zeitpunkt zugelassen wurden, keiner
nachträglichen Prüfung bedürfen. Allerdings kann eine Umweltrisikoprüfung bei einer wesentlichen Änderung der Zulassung
gefordert werden.
32
33
34
Fa
›
– 43 –Drucksache 19/ 16430
Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode
Schematischer Ablauf der Umweltrisikobewertung bei der Zulassung eines Arzneimittels
grobe Expositionsbetrachtung
vertiefte Umweltprüfung
Auflagen
zum Schutz
der Umwelt
PEC/PNEC > 1
PEC > 0,01 μg/l
Phase I
Phase II
PEC < 0,01 μg/l
log Kow > 4.5
Untersuchung der Persistenz,
des Bioakkumulationspotenzials
und der Toxizität
S
T
O
P
P
PEC/PNEC < 1
S
T
O
P
P
However-Klausel,
wenn Effekte unterhalb 10 ng/l
erwartet werden
log Kow: Logarithmus des n-Oktanol-Wasser-Verteilungskoeffizienten
PEC: Predicted Environmental Concentration
PNEC: Predicted No Effect Concentration
Quelle:
2.
35
36
37
38
nach UBA 2014b
Marktdurchdringungsfaktor35, der durchschnittliche Wasserverbrauch pro Kopf und Tag sowie der Ver-
dünnungsfaktor des Kläranlagenablaufs mit ein. Der Metabolismus des Wirkstoffs im menschlichen Kör-
per und dessen Elimination oder Transformation in der Kläranlage werden in dieser Phase noch nicht be-
rücksichtigt. Zusammengefasst wird in Phase I eine Art Worst-Case-Szenario der höchst möglichen Um-
weltkonzentration der Muttersubstanz durchgespielt, um eine maximale Exposition abzuschätzen.36 Wenn
dieser PEC-Wert die Schwelle 10 ng/l überschreitet, muss der pharmazeutische Wirkstoff in Phase II einer
tiefer gehenden Umweltprüfung unterzogen werden. Diese Schwelle gilt aber nicht für Stoffe, bei denen
schon Effekte unterhalb von 10 ng/l erwartet werden. In diesem Fall wird die Substanz in Phase II weiter
geprüft, auch wenn der PEC-Wert die Schwelle von 10 ng/l nicht überschreitet, wie z. B. bei Hormonpräpa-
raten.37
Bei der vertieften Umweltprüfung in Phase II soll das Risiko unerwünschter Wirkungen eines Arzneistof-
fes in Gewässern, Sedimenten und Böden abgeschätzt werden. Dabei werden die Abbaubarkeit und das
Verhalten des Stoffes in diesen Kompartimenten berücksichtigt. Es werden insbesondere für Klärschlamm-
bakterien sowie für Organismen, die geeignet sind, den Zustand der Ökosysteme insgesamt zu repräsen-
tieren – nämlich Algen, Daphnien (Wasserflöhe) und Fische –, die Konzentrationen bestimmt, bei denen
man keine negativen Umwelteffekte38 beobachten kann. Die höchste dieser Konzentrationen wird No Ob-
served Effect Concentration (NOEC) (Kap. 3.1.1) genannt. Die NOEC wird dann mit einem Sicherheits-
faktor multipliziert, um die Predicted No Effect Concentration (PNEC) abzuleiten. Gemäß dem Leitfaden
Der Marktdurchdringungsfaktor ist definiert als die durchschnittliche Anzahl der Menschen, die dieses Produkt pro Tag konsu-
mieren.
Allerdings wird auch unterstellt, dass Metaboliten und Transformationsprodukte nicht toxischer sind als die Muttersubstanz. Falls
das doch der Fall wäre, könnte der Schadeffekt doch noch größer sein als dieses Worst-Case-Szenario.
Auch für fettlösliche Stoffe gilt ein gesondertes Prüfprogramm (UBA 2014b). Sie werden unabhängig vom berechneten PEC ei-
ner eingehenderen Prüfung bezüglich Persistenz (P), Bioakkumulation (B) und Toxizität (T) unterzogen (PBT-Bewertung).
In den Standardtests für die Zulassung von Chemikalien werden verschiedene Umwelteffekte allerdings gar nicht untersucht, wie
z. B. die Reproduktion und sexuelle Entwicklung an Fischen, die endokrine Wirkung der Stoffe oder ihre Wirkungen auf das Ver-
halten von Organismen.
Fa
Abb. 3.1
– 44 –Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode
– 45 –
Drucksache 19/ 16430
›
›
›
der Variabilität zwischen verschiedenen Arten,
der Variabilität innerhalb einer Art und
der Labor-zu-Freilandextrapolation.
Der bereits in Phase I vorläufig berechnete PEC-Wert wird nun in Phase II noch einmal präzisiert, indem
auch die Abbauprozesse im menschlichen Körper und in der Kläranlage berücksichtigt werden. Der Quo-
tient aus (präzisiertem) PEC und PNEC gibt letztendlich Aufschluss über das vom Wirkstoff ausgehende
Umweltrisiko. Ist der Wert PEC/PNEC größer 1, wird von einem Umweltrisiko ausgegangen, und es sind
gemäß dem EMA-Leitfaden Maßnahmen zum Schutz der Umwelt (Kap. 5) zu ergreifen. Bei einem Wert
PEC/PNEC kleiner 1 werden die Umweltrisiken als vertretbar angesehen und es müssen keine Maßnahmen
erfolgen.
2011 hat das UBA (Bergmann et al. 2011) in einer umfassenden Literaturrecherche eine aktuelle Bestandsauf-
nahme der in Deutschland und im europäischen Ausland vorliegenden Monitoringdaten zum Vorkommen und
Verhalten von Arzneimitteln in der Umwelt erarbeitet und in eine Datenbank eingespeist. Sie enthält Nachweise
von 274 Human- und Veterinärarzneistoffen, die in Kläranlagenabläufen oder Oberflächengewässern, im
Grundwasser, Trinkwasser, Klärschlamm, Wirtschaftsdünger, Boden oder Sediment nachgewiesen wurden. Die
Auswertung der Datenbank ergab, dass nur für 70 Wirkstoffe hinreichende Informationen über ökotoxikologi-
schen Wirkkonzentrationen vorhanden waren, um die gemessen Umweltkonzentrationen zu bewerten. Noch
geringer war die Anzahl der Wirkstoffe, für die PNEC-Werte vorlagen. Schließlich konnten 19 Wirkstoffe mit
gesicherter und neun Wirkstoffe mit mangelhafter Datenlage identifiziert werden, für die aufgrund der gemes-
senen Umweltkonzentrationen eine Gefährdung des Ökosystems in mindestens einem Gewässerabschnitt in
Deutschland befürchtet werden muss.40 , 41
Das zur Einschätzung der Gefährlichkeit notwendige ökotoxikologische Wissen ist also für viele Arz-
neistoffe noch unzureichend. Eine besondere Aufmerksamkeit sollte Arzneistoffen geschenkt werden, für die
(1) derzeit aufgrund unzureichenden Monitorings noch keine Umweltkonzentrationen vorliegen oder (2)
aufgrund mangelnden ökotoxikologischen Wissens keine zuverlässige Risiko- und Gefährdungsabschätzung
vorgenommen werden kann, für die aber (3) aufgrund der Zunahme der Verbrauchsmengen ein hohes Gefähr-
dungspotenzial erwartet werden kann (Bergmann et al. 2011).
3.1.3
Methoden zur Bewertung von Kombinationswirkungen
Die in Kapitel 3.1.1 beispielhaft genannten Endpunkte TD LO , LD, ED 50 , LD 50 , NOEL, die etwas komplexeren
Bewertungskonzepte MoS, MoE, ADI sowie das anspruchsvolle PEC/PNEC-Bewertungskonzept der EMA
(2006) beziehen sich auf einzelne Stoffe und bewerten auf die eine oder andere Weise das Risiko schädlicher
Wirkungen auf Gesundheit oder Umwelt. Sie sind aber nicht ohne Weiteres geeignet, um Kombinationswirkun-
gen verschiedener Stoffe zu erfassen und entsprechende Risiken abzuschätzen. Im Folgenden werden nun einige
Ansätze zur Bewertung von Kombinationswirkungen vorgestellt.
Die Untersuchung und Bewertung toxikologischer Auswirkungen von Stoffgemischen auf Mensch und
Umwelt ist schwierig, weil es zum einen eine unüberschaubar große Zahl an denkbaren Stoffgemischen gibt
und weil zum anderen auch nichtstoffliche Stressoren, wie z. B. die Temperatur, die Lichtverhältnisse oder der
pH-Wert, Einfluss auf die Toxizität eines Gemisches in der Umwelt haben. Die Komplexität multipler Stresso-
ren bleibt eine große Herausforderung für die Toxikologie und Ökotoxikologe, wird aber zunehmend zum
Thema von Forschungsvorhaben. Von O'Brien und Dietrich (2004) wurde die provokante These aufgestellt,
dass die Erforschung von Kombinationswirkungen so schwierig ist und so viel Zeit und Geld benötigt, dass es
39
40
41
Bei der Festlegung von Pestizidaufnahmegrenzwerten wird im Gegensatz zu Arzneimitteln allerdings ein höherer Extrapolations-
faktor von 100 verwendet, bei Vorliegen von Genotoxizität gar ein Faktor von 1.000. Die Höhe der Sicherheitsfaktoren wird in
der Literatur immer wieder kritisch diskutiert und es wird versucht, diese mit Extrapolationsversuchen und Modellrechnungen zu
untermauern (Falk-Filipsson et al. 2007; Schneider et al. 2002 u. 2004; Vermeire et al. 2001).
In der UBA-Datenbank sind vielfach sogenannte Altstoffe, also Stoffe aufgeführt, die vor 2006 in den Verkehr gebracht wurden,
für die nach der damaligen gesetzlichen Regelung keine Umweltrisikobewertung erforderlich war. In der Phase nach 2006 wurden
wesentlich mehr als 19 Wirkstoffe einer Umweltrisikobewertung unterzogen, nur wurden diese Wirkstoffe nicht in der Umwelt
nachgewiesen und erscheinen deshalb nicht in der Datenbank.
Bereits der SRU (2007) hat anhand von Daten aus 2004 für 10 Stoffe eine Überschreitung des kritischen PEC/PNEC-Schwellen-
wertes von 1 festgestellt.
Fa
der EMA (2006) wird normalerweise ein Sicherheitsfaktor von 10 verwendet.39 Damit sollen drei Arten
von Unsicherheit berücksichtigen werden und zwar Unsicherheiten aufgrund:Drucksache 19/ 16430
– 46 –
Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode
›
›
›
Die Einzelkomponenten haben einen ähnlichen Wirkmechanismus.
Die Einzelkomponenten haben einen unterschiedlichen Wirkmechanismus.
Es gibt komplexere Wechselwirkungen zwischen den Einzelkomponenten.
Für die ersten beiden Grundtypen gibt es spezifische Strategien, um die Toxizität eines Stoffgemisches vorher-
zusagen, wenn man die Toxizität der Einzelkomponenten kennt.
Wenn die Einzelkomponenten ähnliche Wirkmechanismen haben und wenn man keine weitergehenden
Informationen über die Wechselwirkung der Stoffe hat, erscheint es sinnvoll, bei der Abschätzung der Gesamt-
wirkung des Gemisches anzunehmen, dass sich die Dosen bzw. Konzentrationen des Gemisches addieren. Al-
lerdings muss man dabei gegebenenfalls die unterschiedliche Wirkkraft der Stoffe berücksichtigen. Diese Vor-
gehensweise bei der Vorhersage der Toxizität von Stoffgemischen bezeichnet man mit dem Begriff Concentra-
tion Addition (CA).
Für Gemische, bei denen sich die Einzelwirkungen nicht gegenseitig beeinflussen, etwa weil sie auf unter-
schiedliche Organe wirken, ist es hingegen sinnvoll anzunehmen, dass sich die Wahrscheinlichkeiten des Eintre-
tens der Effekte addieren. Wenn beispielsweise Stoff A die Leber schädigt, sodass dies bei einer Population von
125 Individuen dazu führt, dass nach einer Woche 10 % sterben bzw. nur noch 90 % am Leben sind, und Stoff B
die Atmung beeinträchtigt, sodass in derselben Zeit 20 % der Individuen sterben und 80 % überleben, so kann man
davon ausgehen, dass beide Stoffe in Kombination zu einer Überlebensrate von 72 % (125 Indivi-
duen x 90 % x 80 % = 90 Individuen) führen. Das heißt, eine letale Wirkung tritt bei 28 % der Individuen auf.
Diese Vorgehensweise wird als Independent Action (IA) bezeichnet.
Beide Vorgehensweisen gehen von der Annahme aus, dass die Toxizität des einen Stoffes von derjenigen des
anderen Stoffes nicht beeinflusst wird. Sie wurden beide als Standardverfahren zur Risikobewertung in regulato-
rischen Kontexten vorgeschlagen. Tatsächlich bestehen Schadstoffcocktails selten nur aus Stoffen mit ähnlichen
Wirkmechanismen oder völlig unabhängigen Wirkmechanismen. Vielmehr beeinflussen sich die Wirkmechanis-
men meistens gegenseitig auf komplexe und oft unbekannte Weise (BIO Intelligence Service 2013).42 In einer
Reihe von Untersuchungen wird sich nun mit der Frage beschäftigt, welche Vorhersagestrategie in Fällen, bei
denen die Wirkmechanismen und deren gegenseitige Beeinflussung unklar sind, geeigneter ist.
Im Forschungsprojekt »Pharmas« (2012), in welchem eine Software für Risikoabschätzung von Arznei-
mittelmischungen erarbeitet wurde, wurden Arzneimittelmischungen in sieben Kläranlagenabflüssen in vier eu-
ropäischen Ländern untersucht. Alle Abflüsse zeigten hohe Umweltrisiken. Im Ergebnis trat nur selten Mi-
schungstoxizität auf, die viel höher lag (größer als Faktor 5) als von CA vorhergesagt; in der Regel kann CA
also als ein gutes Prognosemodell gelten.
Insgesamt erscheint also CA grundsätzlich als eine sinnvolle Methode, um die Toxizität von pharmazeuti-
schen Mischungen auf der Basis der Toxizität der einzelnen Substanzen vorherzusagen. Kortenkamp et al.
(2009) weisen allerdings darauf hin, dass bei Gemischen von hochwirksamen und weniger wirksamen Substan-
zen die tatsächliche Toxizität mit der CA-Methode nicht selten unterschätzt wird. Für Mischungen von Arznei-
mitteln, bei denen der Verdacht besteht, dass Wirkstoffe unterschiedliche Wirkungsmechanismen haben, sollten
sowohl CA als auch IA in einem Hybrid- oder Zweistufenansatz eingesetzt werden (Vasquez et al. 2014).
Zur Vorhersage von Wechselwirkungen von toxisch wirkenden Stoffen werden zunehmend mathematisch-
statistische Modelle verwendet. Mit diesen Modellen werden große Mengen empirischer Daten über die Toxi-
zität von Gemischen ausgewertet und statistische Zusammenhänge zwischen der Toxizität von Komponenten
einerseits und von Gemischen andererseits hergestellt. Beispiele hierfür sind die bereits vielfach angewendete
Combination-Index-Isobologram-Equation-Methode, mit der sich gegenseitig verstärkende (synergistische),
additive und gegenseitig abschwächende (antagonistische) Effekte von Wirkstoffmischungen ermitteln ließen,
und die sogenannten QSAR-Modelle (Modelle der quantitativen Struktur-Wirkungs-Beziehung), mit denen
summarische Risikoquotienten von bis zu 100 Arzneimittelrückständen in Klinikabwässern ermittelt werden
konnten (Bergmann et al. 2011).
42
Einen Überblick über die beiden Vorgehensweisen IA und CA geben Kortenkamp et al. 2009.
Fa
vielleicht wirtschaftlicher wäre, bestehende Kläranlagen zu modernisieren, um den Eintrag von pharmazeuti-
schen Mischungen in Gewässer zu verhindern.
Um Kombinationswirkungen konzeptionell zu erfassen, wurde schon vor mehr als 50 Jahren eine Unter-
scheidung von drei Grundtypen der Wechselwirkungen von Stoffmischungen eingeführt (Bliss 1939;
Loewe/Muischnek 1926; Plackett/Hewlett 1948 u. 1952):Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode
– 47 –
Drucksache 19/ 16430
3.2
Auswirkungen von Arzneimittelrückständen auf die menschliche Gesundheit
Arzneistoffe und deren Abbauprodukte, die in die Umwelt gelangt sind, können auf die eine oder andere Weise
wieder in einen menschlichen Organismus kommen. Wenn sich solche Rückstände im Trinkwasser befinden,
nehmen Menschen sie beim Trinken und Essen mit auf. Ein anderer Weg, den Arzneimittelrückstände nehmen
können, geht über Lebensmittel tierischen Ursprungs. Tiere enthalten zuweilen Rückstände, wenn sie mit Me-
dikamenten behandelt wurden oder belastete Futterpflanzen gefressen haben. Auch ein Transfer pharmakolo-
gisch wirksamer Stoffe in Lebensmittel nichttierischen Ursprungs kann nicht ausgeschlossen werden. Arznei-
mittelrückstände tierischen Ursprungs können in Pflanzen akkumulieren, die mit sogenanntem Wirtschaftsdün-
ger, also Gülle oder Dung, behandelt wurden (BfR 2011; Chitescu et al. 2014). Man muss also davon ausgehen,
dass Arzneistoffe nicht nur in der Umwelt vorhanden sind, sondern dass sie auch in gewissen Mengen vom
Menschen mit dem Trinkwasser oder mit der Nahrung aufgenommen werden. Auch andere Expositionspfade
etwa über die Atemluft oder die Haut können nicht ganz ausgeschlossen werden. Beispielsweise können in
Tierställen Antibiotika über den Staub inhaliert werden.
3.2.1
Akute Gesundheitsgefährdungen durch Trinkwasser
Verschiedene Institutionen und Experten haben übereinstimmend festgestellt, dass derzeit der Genuss von
Trinkwasser in Deutschland unbedenklich ist: Akute Gesundheitsgefährdungen sind nach heutigem Wissens-
stand durch Arzneimittel im Trinkwasser »nahezu ausgeschlossen« (ISOE 2008, S. 11) oder zumindest »sehr«
oder »äußerst unwahrscheinlich« (SRU 2007; WHO 2011). Das Risiko ist »sehr gering, wenn nicht unbedeu-
tend« (Pharmas 2012) bzw. es besteht »keine konkrete Gesundheitsgefahr« (Ebert et al. 2014). Bezogen auf
einzelne Wirkstoffe gibt es weitere Stellungnahmen:
›
Das britische Drinking Water Inspectorate (DWI 2007) betrachtete das Risiko von Arzneimittelrück-
ständen im Trinkwasser mithilfe deterministischer und probabilistischer Modelle basierend auf einem ein-
fachen Ansatz der EMA. Es wurden die sogenannten Expositionsraten ermittelt, d. h. das Verhältnis der
geschätzten Trinkwasserkonzentration eines Stoffes und der minimalen therapeutischen Dosis. Analysiert
wurden Arzneimittel und illegale Drogen. Mithilfe des deterministischen Modells wurden Worst-Case-Sze-
narien untersucht, in die die jeweils höchsten gemessenen Konzentrationen eingingen. Die MoS für die
meisten Arzneimittel und Drogen lag über 1.000. Nur für 10 Substanzen – 4 davon illegale Drogen – waren
die MoS unter 1.000. Nur in einem Fall lag sie unter dem kritischen Wert von 100. Wenn die MoS-Raten
nicht mit einem deterministischen Modell für ein Worst-Case-Szenario, sondern mit einem realistischeren
probabilistischen Modell berechnet werden, kamen bis auf einen alle Mittelwerte der MoS über 1.000 und
nur für Tetrahydrocannabinol – eine psychoaktive Substanz – unter 1.000, aber noch über dem kritischen
Wert von 100. Die Autoren schlossen hieraus, dass von Arzneimittelrückständen im Trinkwasser kein sig-
nifikantes Risiko für Menschen ausgeht.
› Von der französischen Agence nationale de sécurité sanitaire de l'alimentation, de l'environnement et du
travail (ANSES 2013) wurde für das Antiepilepktikum Carbamazepin und das Antibiotikum Danofloxacin
im Trinkwasser ein vernachlässigbares Gesundheitsrisiko ermittelt.
› Das UBA (Ebert et al. 2014) führt zu den im Trinkwasser gefundenen Schmerzmitteln Diclofenac, Ibu-
profen und Phenazon sowie dem Antibiotikum Sulfamethoxazol und dem Hormon 17α-Ethinylestradiol
aus, dass sich die gefundenen Konzentrationen im Trinkwasser im Bereich von Bruchteilen eines μg/l be-
wegen. Dies sind Konzentrationen, die Größenordnungen unter denen liegen, bei denen eine Arzneimittel-
wirkung auf den Menschen feststellbar ist. Die im Trinkwasser nachgewiesenen Mengen sind Hundert bis
1 Mio. Mal niedriger als die therapeutische Tagesdosis. Trinkwasserhygienisch sind diese Arzneimittelspu-
ren zwar unerwünscht, für den Menschen besteht aber dadurch nach heutigem Stand des Wissens keine
konkrete Gesundheitsgefahr.
Fa
Wie in den Kapiteln 3.2.2 und 3.3.2 erläutert wird, liegt die Schwelle für ökotoxikologische Wirkungen
chronischer Expositionen zum Teil mehrere Größenordnungen unter denen akuter Expositionen. Untersuchun-
gen zur chronischen Niedrigdosiswirkung von Pharmaka in Mischungen liegen derzeit nicht vor.
Das Problem der gemeinsamen Wirkung von Mehrkomponentenmischungen von Chemikalien in der Um-
welt ist nicht auf Arzneimittel beschränkt. Typische Gemische in der Umwelt enthalten auch eine Vielzahl von
Chemikalien aus anderen regulatorischen Bereichen wie z. B. Industriechemikalien, Pflanzenschutzmittel und
Biozide. Petersen et al. (2014) untersuchten elf Pharmaka in einer Mischung zusammen mit Bioziden, po-
lyzyklischen aromatischen Kohlenwasserstoffen und Alkylphenolen auf Algentoxizität. Die Toxizität des
Gemisches konnte gut mit CA vorhergesagt werden.Drucksache 19/ 16430
›
Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode
Ähnlich formulierte auch der Sachverständigenrat für Umweltfragen (SRU 2007): Die tägliche bzw. le-
benslange Aufnahme von unterschiedlichen Wirkstoffen durch Trinkwasser liegt mindestens um den Fak-
tor 1.000 niedriger als diejenigen Konzentrationen, ab denen eine therapeutische Wirkung eintreten würde.
In etwa 90 % der Fälle differierten sie sogar um mindestens den Faktor 150.000.
In die gleiche Richtung geht auch die Einschätzung der Expertinnen und Experten des EU-Projekts »Phar-
mas« (2012): Es könnten zwar besonders empfindliche Untergruppen in der Bevölkerung existieren, aber
es wäre unwahrscheinlich, dass diese durch Humanpharmazeutika in der Umwelt beeinflusst werden.
Völlig ausgeschlossen werden Risiken für den Menschen durch Arzneistoffe in der Literatur jedoch nicht, vor
allem aufgrund von Wissenslücken bei Kombinations- und Langzeitwirkungen geringer Dosen, insbesondere
auch im Hinblick auf empfindliche Menschen (BIO Intelligence Service 2013). Vorsorgliche Maßnahmen und
weitere Beobachtungen, auch angesichts des tendenziell steigenden Arzneimittelverbrauchs, sind nach Ebert et
al. (2014) notwendig. Anlass zur Besorgnis bereiten Funde von antibiotikaresistenten Keimen in Gewässern,
deren Ursache und Herkunft bisher ungeklärt ist (Kap. 3.2.3). Weil zu erwarten ist, dass die Konzentrationen
von Arzneimittelreststoffen im Wasser weiter zunehmen werden, ist eine gewisse Achtsamkeit auch bei weite-
ren Stoffen geboten, selbst wenn bei den heute zu beobachtenden, sehr geringen Konzentration keine Beweise
für gesundheitliche Auswirkungen auf den Menschen existieren: Antiparasitika, Antimykotika, Hormone und
Antikrebsarzneimittel (Zytostatika), die über die Umwelt aufgenommen werden, könnten sich in Zukunft unter
Umständen als problematisch für die menschliche Gesundheit erweisen (BIO Intelligence Service 2013; Küm-
merer et al. 2016).
3.2.2
Langzeit- und Niedrigdosiswirkungen
Es könnte prinzipiell sein, dass Arzneistoffe, auch wenn sie in sehr kleinen Dosen, dafür aber über sehr lange
Zeiträume aus der Umwelt in den menschlichen Körper gelangen, dort eine unerwünschte Wirkung entfalten.
Eine chronische Niedrigdosisexposition gegenüber Arzneimitteln erfolgt über das Trinkwasser und durch Rück-
stände in Blatt- und Hackfrüchten, Fischereierzeugnissen, Fleisch- und Milchprodukten (BIO Intelligence Service
2013). Die Aufnahme von Arzneimittelrückständen über Lebensmittel aus tierischer Produktion wird kontrolliert,
allerdings fehlt es heute nach wie vor noch an validen Daten über andere Expositionspfade; diese Wissenslücke
sollten in naher Zukunft geschlossen werden (Boxall et al. 2012). Für chronische Wirkungen von Arzneistoffen
auf Menschen gibt es zurzeit noch keine empirische Evidenz:
› Houtman et al. (2014) berechneten für 42 Arzneimittel die Gefährdung, die in den Niederlanden vom le-
benslangen Genuss von Trinkwasser ausgeht, welches diese Stoffe in Spuren enthält. Es wurde auch die
Kombinationswirkung der Stoffmischung mit dem CA-Ansatz berechnet. Die Wissenschaftler kamen zu
dem Schluss, dass die lebenslange Gesamtdosis nur im Bereich einiger Milligramm liegt. Das entspricht
weniger als 10 % der therapeutischen Dosis, die einem Patienten an einem Tag verabreicht wird. Das Risiko
von Gesundheitsschäden erschien den Autoren daher vernachlässigbar gering.
› Cunningham et al. (2009) befassten sich mit 44 pharmazeutischen Wirkstoffen aus rund 22 allgemeinen
pharmakologischen Klassen, die ein breites Spektrum der Anwendungsfelder von Arzneimitteln repräsen-
tieren. Es wurden die PEC/PNEC-Verhältnisse ermittelt, die sich für die USA und die EU bei lebenslangem
Konsum des dortigen Trinkwassers und der dortigen Fische ergeben. Die PEC/PNEC-Verhältnisse lagen
für alle Verbindungen deutlich kleiner 1, variierend von 7 x 10 -2 bis 6 x 10 -11 . Dies weist darauf hin, dass
von diesen Arzneistoffen keine chronische Wirkung ausgeht und der lebenslange Genuss des Wassers und
der Fische keine nennenswerte Gefahr für die menschliche Gesundheit darstellt.
3.2.3
Antibiotika und Antibiotikaresistenzen
Vor der Entdeckung von Penicillin waren Infektionskrankheiten eine Geißel der Menschheit. Dank der Antibi-
otika konnten diese Krankheiten stark zurückgedrängt werden. Als Antibiotika werden Arzneimittel bezeichnet,
die gegen krankheitserregende Bakterien wirken. Zielorganismus ist in diesem Fall also nicht der Körper des
Menschen, sondern es sind die Bakterien mit spezifischen Angriffspunkten. Daher sind Antibiotika für den
Fa
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– 48 –Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode
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Drucksache 19/ 16430
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Tierhaltung: Antibiotikaresistenzen können sich bei Tieren bilden, die mit Antibiotika behandelt werden.
Die entsprechenden antibiotikaresistenten Keime werden dann von Menschen, die deren Fleisch verzehren,
aufgenommen. Die Keime können sich aber auch durch tierische Ausscheidungen verbreiten und wurden
schon an Gemüse und in Oberflächengewässern gefunden.
Unmittelbare Übertragung von Mensch zu Mensch: Wenn sich resistente Keime in einem mit Antibiotika
behandelten Menschen entwickelt haben, kann dieser die Keime an andere Menschen in seinem persönli-
chen Umfeld direkt übertragen.
Tourismus: Menschen können durch Reisen resistente Erreger in Gebiete transferieren, in denen sie zuvor
noch nicht vorkamen.
Gesundheitseinrichtungen: In Krankenhäusern kommen sehr viele verschiedene Keime vor und resistente
Keime können dort von Patienten auf andere Patienten übertragen werden. Darüber hinaus besteht die be-
gründete Vermutung, dass Antibiotikarückstände in Gewässern der Entstehung und Verbreitung von Anti-
biotikaresistenzen Vorschub leisten (Keen/Montforts 2012).
Die Medien beschäftigte im Mai 2017 der (in der Fachpresse schon seit Jahren bekannte) Fall von mutmaßlichen
Antibiotikaresistenzen, die sich im Abwasser von Pharmafabriken in Hyderabat (Indien) entwickelt hatten.45
Im Trinkwasser von Hyderabat lassen sich schon resistente Keime nachweisen, die vermutlich aus diesen Ab-
wässern stammen (z. B. Patoli et al. 2010).
Noch größere Aufmerksamkeit erhielt ein Betrag des NDR-Magazins Panorama im Februar 2018, in dem
von Nachweisen multiresistenter Keime in niedersächsischen Bächen, Flüssen und Badeseen berichtet wurde.46
Die Art und Vielfalt der Keime hatten die Wissenschaftler, die die Proben untersuchten, überrascht. Weil es
43
44
45
46
Die Erklärung hierfür ist, dass Bakterien sogenannte Prokaryonten, d. h. kernlose Organismen, sind und Menschen sogenannte
Eukaryonten, also Zellen mit Zellkern aufweisen. Aufgrund der fundamental unterschiedlichen biochemischen und zellphysiolo-
gischen Funktionsweisen beider Zelltypen wirken Antibiotika nur auf Prokaryonten. Allerdings gibt es auch im Körper von Men-
schen Bakterien, beispielsweise in der Darmflora, die wichtige Funktionen ausüben. Wenn Antibiotika Nebenwirkungen haben,
sind diese in der Regel darauf zurückzuführen, dass diese nutzbringenden Bakterien im Menschen mit geschädigt werden.
Beispielsweise können Tetrazykline, wenn sie im Kindesalter gegeben wurden, zu Verfärbungen der Zähne oder Störungen der
Zahnschmelzbildung führen. Chloramphenicol kann bei Säuglingen das Grey-Syndrom (Störung des Stoffabbaus in der Leber,
was im Extremfall tödliche Wirkungen haben kann;
https://de.wikipedia.org/wiki/Grey-Syndrom [15.9.2019]) und in seltenen
Fällen auch eine aplastische Anämie auslösen, weshalb die Anwendung bereits stark eingeschränkt wurde. Bei Erythromycin und
anderen Antibiotika ist eine Verstärkung der Wirkung und Nebenwirkung anderer Arzneistoffe bei deren gleichzeitiger Einnahme
bekannt. Von einigen Antibiotika (z. B. manchen Penicillinen) weiß man, dass sie allergische Reaktionen auslösen können. Infor-
mationen, ob hierfür auch die Aufnahme mit dem Trinkwasser relevant sein könnte, existieren allerdings nicht.
In einem Industriegebiet im Norden der Stadt werden im großen Maßstab Antibiotika, auch für den europäischen Markt, herge-
stellt. Die Abwässer der dortigen Produktionsanalagen gelangen illegal teilweise ungeklärt in die Umwelt, sodass erhebliche Kon-
zentrationen von Antibiotika in den dortigen Gewässern gemessen werden können
(
https://www.tagesschau.de/ausland/antibiotika-113.html [15.9.2019])
https://faktenfinder.tagesschau.de/inland/keime-wasser-101.html (3.5.2018),
https://www.ndr.de/nachrichten/niedersachsen/Gefaehrliche-Keime-in-Baechen-Fluessen-und-Seen,keime302.html (15.9.2019)
Fa
Menschen zumeist gut verträglich,43 auch wenn bei einigen Antibiotika unerwünschte Nebenwirkungen auf-
treten können.44
Eine ernstzunehmende Gefahr für die öffentliche Gesundheit geht jedoch zunehmend von Antibiotikare-
sistenzen aus (EFSA/ECDC 2016; Hannappel et al. 2014; O'Neill 2014 u. 2016; WHO 2014), wenn also die
Krankheitserreger unempfindlich gegenüber einer Antibiotikabehandlung werden. Antibiotikaresistenzen kön-
nen entstehen, wenn die Arzneien unsachgemäß angewendet werden und beispielsweise die Therapie vorzeitig
beendet wird, sodass die Erreger nicht vollständig abgetötet werden. Bakterien vermehren sich schnell und
wandeln dabei ihr Erbgut. Das unzureichend dosierte Antibiotikum übt einen Selektionsdruck auf die Bakterien
aus, was die Entstehung von Resistenzen begünstigt. Resistenzen können aber auch außerhalb des menschlichen
oder tierischen Organismus beispielsweise in Krankenhäusern oder Tierställen entstehen, wenn Antibiotika dort
in Konzentrationen vorkommen, die einen Selektionsdruck auf die Vermehrung der Erreger ausüben.
Weltweit wird beobachtet, dass bestimmte pathogene Bakterien zunehmend gegen mehrere Antibiotika
gleichzeitig resistent, also multiresistent geworden sind. Bei manchen Patienten kann somit nicht schnell genug
ein wirksames Antibiotikum gefunden werden, sodass sie an der Infektion womöglich sterben.
Antibiotikaresistenzen können sich über verschiedene Wege ausbreiten. Laut dem European Centre for
Disease Prevention and Control (ECDC 2015) können dabei vier zentrale Pfade unterschieden werden:Drucksache 19/ 16430
– 50 –
Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode
3.2.4
Hormonelle Wirkungen
Hormonell wirksame Stoffe, auch endokrin wirksame Stoffe genannt,48 nehmen unter den Chemikalien und
Arzneistoffen insofern eine Sonderrolle ein, als sie zum Teil in sehr niedrigen Dosen wirken. Arzneimittel mit
hormonellen Wirkungen greifen in der Regel gezielt in die Funktion des Hormonsystems ein. Auf eine endo-
krine Wirkung zielen beispielsweise Präparate zur Empfängnisverhütung (wie die Antibabypille mit dem syn-
thetischen Wirkstoff Ethinylestradiol), zur Behandlung von Wechseljahrbeschwerden und hormonabhängigem
Krebs, aber auch Medikamente zur Behandlung von Krankheiten der Schilddrüse und des Nervensystems. Auch
bestimmte Antidepressiva wie selektive Serotonin-Wiederaufnahme-Inhibitoren (SSRI) besitzen eine endokrine
Wirkung als Nebeneffekt (EC 2013). In der industriellen Tierzucht werden Hormonpräparate unter anderem als
Mittel zur Steuerung der Brunst bei der künstlichen Besamung eingesetzt.
Endokrin wirksame Stoffe geben aufgrund ihrer spezifischen Eigenschaften in besonderer Weise Anlass
zur Sorge. Das drückte sehr klar die Direktorin des National Institute of Environmental Health Sciences, Linda
Birnbaum, aus, als sie am 25. Februar 2010 vor dem Subcommittee on Energy and Environment (2010) des US-
amerikanischen Repräsentantenhaus zu den Risiken von endokrin wirksamen Stoffen im Trinkwasser für
Mensch und Umwelt angehört wurde. Sie wies zunächst darauf hin, dass in den letzten 50 Jahren Erkrankungen
zugenommen haben, die durch endokrin wirksame Stoffe ausgelöst werden können. Sie nannte unter anderem
die Zunahme von Brust- und Prostatakrebs zwischen 1969 und 1986, eine Vervierfachung der extrauterinen
Schwangerschaften in den USA zwischen 1970 und 1987 und ein Rückgang der aktiven, befruchtungsfähigen
Samenzellen im männlichen Sperma weltweit um 42 % zwischen 1940 und 1990. Diesen Beobachtungen stellte
sie die zahlreichen Beobachtungen von endokrin wirksamen Stoffen in Gewässern einerseits und Abnormitäten
der sexuellen Entwicklung bei Amphibien und Fischen andererseits gegenüber. Birnbaum sah darin einen Grund
zur Besorgnis über endokrin wirksame Substanzen im Trinkwasser und deren potenzielle Wirkung auf die
menschliche Gesundheit und hob vier Risikofaktoren endokrin wirksamer Stoffe hervor:
›
›
›
›
Wirkung schon bei niedrigen Dosen: Weil endokrine Stoffe als Boten- und Signalstoffe fungieren, genügen
schon extrem geringe Mengen, um Wirkungen zu erzeugen.
Große Bandbreite der Effekte: Hormonelle Signale steuern alle Organe und Prozesse. Wenn das endokrine
System durch Substanzen von außen gestört wird, können die Effekte sehr vielfältig sein und sie sind kaum
alle vorherzusagen.
Zeitliche Verzögerung der Effekte: Es kommt nicht selten vor, dass die Wirkungen der endokrinen Stoffe
erst lange Zeit nach der Exposition auftreten. Das trifft insbesondere für Entwicklungs- und Wachstums-
prozesse zu, weil sie durch endokrine Systeme gesteuert werden.
Allgegenwärtigkeit der Exposition: Sehr viele natürliche und künstliche Stoffe haben endokrine Wirkungen
und viele dieser Stoffe kommen fast überall in der Umwelt vor – insbesondere auch im Wasser. Nicht nur
endokrin wirksame Arzneimittel können in den menschlichen Körper gelangen, sondern auch endokrin
wirksame Substanzen, die in Kosmetika, Sonnenschutzmitteln und Pflegemitteln vorkommen und über die
Haut oder das Trinkwasser aufgenommen werden. Die Konzentrationen in der Umwelt sind insgesamt so
hoch, dass eine Exposition des Menschen und ein biologischer Effekt nicht unplausibel erscheinen.
47 Beispiele für aktuelle Forschungsprojekte zur Entstehung und Ausbreitung von Antibiotikaresistenzen unter
http://www.hy-reka.net/ (15.9.2019),
https://forschungsinfo.tu-dresden.de/detail/forschungsprojekt/14381 (15.9.2019)
48 Man spricht oft auch von endokrinen Stoffen. Endokrin bedeutet wörtlich nach innen abgebend und bezeichnet die Eigenschaft
von Hormondrüsen, die Hormone direkt, also ohne speziellen Ausführungsgang in den Blutkreislauf abzugeben.
Fa
bislang keine systematischen Kontrollen der Gewässer auf solche Erreger und wenig Forschungen über Entste-
hung und Ausbreitung antibiotikaresistenter Keime in Gewässern gibt,47 sind das Ausmaß der Belastungen und
die eventuell davon ausgehenden Gesundheitsgefahren noch weitgehend unklar.
Klar ist aber, dass die zunehmenden Antibiotikaresistenzen insgesamt ein ernstes Thema sind. In einer
aktuellen Studie im Auftrag der britischen Regierung wird geschätzt, dass Antibiotikaresistenzen schon heute
jährlich etwa 50.000 Menschen in Europa und den USA das Leben kosten. Global geht man von rund
700.000 Fällen aus (O'Neill 2016). Als Folge zunehmender Resistenzentwicklungen prognostizieren Experten
eine Verzehnfachung der Todeszahlen im Jahr 2050 in Europa und den USA. In anderen Regionen dürfte der
Zuwachs noch höher ausfallen, insgesamt geht man für die Zeit nach 2050 von rund 10 Mio. Todesfällen jähr-
lich aufgrund von Antibiotikaresistenzen aus (O'Neill 2015 u. 2016).Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode
– 51 –
Drucksache 19/ 16430
›
›
Webb et al. (2003) verglichen die im deutschen Trinkwasser gefundenen Konzentrationen von Arzneimit-
telrückständen mit deren therapeutischen Dosen. Die Mengen, die über lange Zeit durch den täglichen
Trinkwasserkonsum aufgenommen werden, lagen um mindestens drei, zumeist aber mehr Größenordnun-
gen darunter. Für einige Substanzen war es auch möglich, die Exposition durch Trinkwasser mit ADI-
Werten (Kap. 3.1.1) zu vergleichen, die im Kontext der Produktion von Nahrungsmittel ermittelt wurden.
Auch hier lagen die Trinkwasserwerte unterhalb dieser ADI-Werte. Die Wissenschaftler zogen daraus den
Schluss, dass von endokrin wirksamen Stoffen im Trinkwasser keine substantiellen Risiken ausgehen.
Caldwell et al. (2010) schätzten das Risiko von Östrogenen im Trinkwasser, die aus Medikamenten stam-
men, auf Kinder in den USA ab. Sie fanden heraus, dass die Exposition der Kinder gegenüber derartigen
Östrogenen um den Faktor 730.000 bis 480.000-mal niedriger lag als die gegenüber natürlichen Östrogenen
in Kuhmilch. Die Gesamtexposition eines Kindes gegenüber Östrogenen im Trinkwasser war immer noch
150-mal niedriger als die Östrogenbelastung durch Milch. Caldwell et al. (2010) folgerten, dass Östrogene,
die gegebenenfalls im Trinkwasser vorhanden sind, keine nachteiligen Auswirkungen auf US-Bürgerinnen
und Bürger haben, einschließlich Kinder und anderer sensibler Bevölkerungsgruppen.
3.2.5
Schäden der Erbsubstanz oder von Embryonen
durch Zytostatika
Zytostatika werden in der Krebstherapie verwendet. Sie greifen durch unterschiedliche Mechanismen in den Zyk-
lus von sich teilenden Zellen ein und führen so zum Tod von entarteten Krebszellen, aber auch von gesunden
teilungsaktiven Zellen. Manche Zytostatika, insbesondere sogenannte Alkylanzien, können die Erbsubstanz ver-
ändern. Das kann wiederum eine Krebserkrankung auslösen. Es stellt sich daher die Frage, ob eine solche Gefahr
für Menschen auch von Zytostatikarest- und -abbaustoffen im Wasser ausgeht. Problematisch ist, dass für Zytos-
tatika – ähnlich wie bei endokrin wirksamen und kanzerogenen Stoffen – keine Dosis angegeben werden kann,
unterhalb der sie mit Sicherheit keine genotoxische Wirkung haben. Beim Umgang mit ihnen sind daher besondere
Vorsichts- und Schutzmaßnahmen erforderlich (Eitel et al. 2004).
Aufgrund der geringen Verbrauchsmengen sind die in der Umwelt gemessenen Konzentrationen der Zy-
tostatika sehr niedrig (meist im Bereich ng/l) (z. B. Buerge et al. 2006). Dies ist der Grund, warum für sie trotz
ihrer hohen Wirksamkeit und Gefährlichkeit bisher nur bei Neuzulassungen eine Umweltrisikoabschätzung ge-
mäß dem Leitfaden der EMA (2006) durchgeführt wurde, obwohl von einigen Wissenschaftlerinnen und Wis-
senschaftlern gefordert wird, auch Zytostatika zu prüfen, deren Zulassung bereits länger zurück liegt (Kümme-
rer et al. 2016; Kap. 3.1.2).
In wissenschaftlichen Studien wurden die Risiken, die von Zytostatikarückständen in der Umwelt auf die
menschliche Gesundheit ausgehen, trotz der hohen Toxizität von Zytostatika als gering eingeschätzt, jedoch
auch nicht völlig ausgeschlossen:
›
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In einer Untersuchung zum Krebsrisiko durch die lebenslange Aufnahme der beiden bedeutenden Zytosta-
tika Cyclophosphamid und Ifosfamid aus unbehandeltem Oberflächenwasser in den höchsten lokal gemes-
senen Konzentrationen errechneten Kümmerer und Al-Ahmad (2010) bei Ifosfamid 1.000-fach bzw. bei
Cyclophosphamid 10.000-fach geringere Aufnahmemengen als in der Krebstherapie üblich. Die Autoren
folgerten dennoch, dass eine Erhöhung des Krebsrisikos, insbesondere im Hinblick auf Neugeborene und
Kinder, nicht vollständig ausgeschlossen werden kann, weil der Wirkmechanismus von Zytostatika in der
Therapie ein anderer ist als der Mechanismus der Schadwirkung auf die Erbsubstanz. Sie empfehlen, den
Eintrag der beiden Stoffe und anderer krebserzeugender Arzneimittel in die Umwelt zu reduzieren (Küm-
merer/Al-Ahmad 2010).
Auch im Projekt »Pharmas« wurden Zytostatika untersucht. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler
kommen zu dem Ergebnis, dass akute nachteilige Auswirkungen auf Menschen, die diesen Stoffen unbe-
absichtigt ausgesetzt sind, »sehr unwahrscheinlich« sind, obwohl die Konzentrationen von Zytostatika in
der Umwelt noch weitgehend unbekannt sind (Pharmas 2012).
Fraglich ist, ob Zytostatika in der Umwelt unter Umständen Schädigungen von Embryonen (Teratogenität) her-
vorrufen können. Hierzu sind aber keine Studien bekannt, sodass dazu derzeit keine empirischen Aussagen
gemacht werden können.
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Es gibt aber auch einige wissenschaftliche Untersuchungen, die – zumindest derzeit und in spezifischen Kon-
texten – keine Gefährdung durch endokrin wirksame Stoffe im Trinkwasser sehen:Drucksache 19/ 16430
Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode
Neurotoxische Wirkungen
Mit Neurotoxizität wird die schädigende Wirkung von Stoffen auf Nervenzellen oder Nervengewebe bezeich-
net. Eine solche Wirkung könnte theoretisch von Rückständen von Neuropharmaka in der Umwelt ausgehen,
die etwa über Trinkwasser in einen menschlichen Organismus aufgenommen werden. Hierzu gibt es aber nur
vereinzelte Studien. Bercu et al. (2008) untersuchten das Risiko einer Aufnahme von drei Neuropharmaka durch
das Trinkwasser bei Kindern. Es wurden Margin-of-Safety-Werte zwischen 147 und 642 berechnet, was bedeu-
tet, dass kein relevantes Risiko für die Gesundheit der Kinder besteht (Bercu et al. 2008).
Im Trinkwasserprojekt »ToxBox« des UBA (2014c) soll die Neurotoxizität als einer der wichtigsten Pa-
rameter im regulatorischen Bereich behandelt werden, weil aufgrund des stetigen Anstiegs von neurodegenera-
tiven Erkrankungen zu erwarten ist, dass Neuropharmaka zukünftig in größeren Mengen in die Umwelt gelan-
gen.
3.2.7
Kombinationswirkungen
Wenn in der Umwelt Arzneistoffe gefunden werden, dann typischerweise nicht vereinzelt, sondern gemeinsam
mit anderen, natürlich vorkommenden, aber auch künstlichen Wirkstoffen (BIO Intelligence Service 2013).
Gründe hierfür sind die große Vielfalt simultan in Human- und Tiermedizin eingesetzter Stoffe, die Vielzahl
der verwendeten Chemikalien überhaupt und die Tatsache, dass die Ausgangssubstanzen durch chemische
und/oder physikalische Prozesse in Abbauprodukte und Metaboliten umgewandelt werden. Insofern ist es auch
wichtig, nicht nur die Wirkungen jedes Wirkstoffs einzeln, sondern auch ihre Kombinationswirkung zu betrach-
ten. Aus der Ökotoxikologie, die sich mit schädlichen Wirkungen von Stoffen auf nichtmenschliche Organis-
men beschäftigt, weiß man, dass die Ökotoxizität einer Mischung fast immer höher ist als die Wirkungen der
einzelnen Komponenten für sich genommen (Kortenkamp et al. 2009) (Kap. 3.3.5). Eine Mischung kann selbst
dann eine erhebliche ökotoxische Wirkung aufweisen, wenn alle Bestandteile nur in geringen Konzentrationen
vorhanden sind und einzeln keine signifikanten ökotoxischen Wirkungen haben (Kortenkamp et al. 2009). Es
gibt gute Gründe anzunehmen, dass diese beiden Prinzipien auch im Bereich der Humantoxizität von Arznei-
mittelrückständen gelten. Allgemein gibt es jedoch einen Mangel an Daten zu Mischungswirkungen von Arz-
neimitteln untereinander und in Kombination mit anderen relevanten organischen Schadstoffen wie z. B. endo-
krin wirksamen Stoffen (BIO Intelligence Service 2013).
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3.3
In der Übersicht von Vasquez et al. (2014) über Studien zu ökotoxischen und humanen Effekten von Arz-
neimittelmischungen aus den Jahren 2000 bis 2014 finden sich mehrere, bei denen negative Effekte bei
Algen, Bakterien, Tieren, menschlichen Zelllinien (u. a. von Embryonen und Tumoren) teilweise schon bei
Konzentrationen auftraten, wie sie in der Umwelt vorgefunden werden können.
Das Team im Forschungsprojekt »Tomixx«49 untersuchte sowohl die ökotoxischen als auch die humanto-
xischen Wirkungen von Wirkstoffmischungen, wobei letztere aus In-vitro- und Tiermodellen abgeleitet
wurden. Es zeigte sich, dass sich pharmazeutische Wirkstoffe einzeln anders verhalten als in Mischungen:
Einzeln waren Wirkstoffe bis zu 50 mg/l nicht mutagen, während bei gleichzeitiger Testung mehrerer Wirk-
stoffe mutagene Effekte schon bei 10 mg/l je Wirkstoff auftraten. Auch Synergieeffekte wurden beobachtet.
Ähnliche Ergebnisse wurden im EU-Projekt »Cytothreat« (Filipic 2013) gefunden.
Auswirkungen von Arzneimittelrückständen auf die Umwelt
In den 1990er Jahren wurde auf dem indischen Subkontinent ein drastischer Rückgang mehrerer Geierpopula-
tionen beobachtet. Zunächst vermutete man, dass die Geier einer Infektionskrankheit erlagen. Bei Analysen von
Gewebeproben wurde jedoch der Wirkstoff Diclofenac gefunden. Diclofenac ist ein preisgünstiges und in Süd-
asien weit verbreitetes Schmerzmittel, mit dem auch Rinder behandelt wurden. Kühe werden von Hindus ver-
ehrt und dürfen von ihnen nicht verzehrt werden. Tote Rinder werden auch nicht entsorgt, sondern einfach
liegen gelassen, weshalb ihr Fleisch oft von Geiern gefressen wird. Bei gezielten Untersuchungen fand man
heraus, dass schon geringe Mengen von Diclofenac bei indischen Geiern zum Tode durch Nierenversagen
führen (Oaks et al. 2004). Zwar wurde die Anwendung von Diclofenac bei Haustieren in Indien verboten,
nachdem man den Zusammenhang erkannt hatte, aber weil alternative Arzneimittel teurer sind, wird Diclofenac
weiterhin illegal verwendet.50 Anders als die indischen Altweltgeier reagieren Neuweltgeier, die einer anderen
biologischen Familie angehören, deutlich weniger empfindlich bzw. gar nicht auf denselben Wirkstoff (Rattner
49
50
http://www.eng.ucy.ac.cy/tomixx/results.html (15.9.2019)
https://de.wikipedia.org/wiki/Indiengeier (15.9.2019)
Fa
3.2.6
– 52 –Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode
– 53 –
Drucksache 19/ 16430
3.3.1
Akute Wirkungen
Die meisten pharmazeutischen Wirkstoffe besitzen eine hohe Abbaustabilität, damit sie nicht bereits bei der
Aufnahme in den Körper zerfallen, sondern ihre Wirkung optimal entfalten können. Diese hohe Stabilität hat
jedoch zur Folge, dass Arzneistoffe häufig auch in der Umwelt nur sehr schlecht abgebaut werden und dort ihre
biologische Wirkung lange Zeit beibehalten.
In einer umfassenden Studie im Auftrag der EU-Kommission (EC 2013) wird eine Reihe von Beispielen
ökotoxischer Wirkungen von Arzneimitteln in umweltrelevanten Konzentrationen genannt (siehe auch Brodin
et al. 2013; Caldwell et al. 2008; Kidd et al. 2007; Liebig et al. 2010; Petrovic et al. 2002; Porsbring et al. 2009;
Ratsak et al. 2013):
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51
52
53
Das Verhütungsmittel Ethinylestradiol beeinträchtigt die Vermehrung von exponierten Fischpopulationen
schon in sehr geringen Konzentrationen (größer/gleich 1 ng/l) nachhaltig.
Verschiedene Antibiotika verschieben die Zusammensetzung der mikrobiellen Lebensgemeinschaft im Bo-
den und beeinträchtigen deren physiologische Funktionen.
Das Antimykotikum Clotrimazol beeinträchtigt schon in picomolaren (Umwelt-)Konzentrationen
(10 120 mol/l, was 350 pg/l entspricht) die Chlorophyllproduktion und das Wachstum von Algen.
Das angstlösende Medikament Oxazepam bewirkt eine Verhaltensänderung beim Flussbarsch.
Das Antiparasitikum Bimectin Plus (mit den Wirkstoffen Ivermectin und Clorsulon) wirkt stark toxisch auf
Dunginsekten.
Eine ähnliche Wirkung wie Diclofenac konnte für Altweltgeier in klinisch wirksamen Dosen bei dem Wirkstoff Ketoprofen ge-
zeigt werden (Naidoo et al. 2010).
Richtlinie 2013/39/EU zur Änderung der Richtlinien 2000/60/EG und 2008/105/EG in Bezug auf prioritäre Stoffe im Bereich der
Wasserpolitik
Richtlinie 2000/60/EG zur Schaffung eines Ordnungsrahmens für Maßnahmen der Gemeinschaft im Bereich der Wasserpolitik
Fa
et al. 2008). Auch wenn in dem Beispiel der Wirkung von Diclofenac auf indische Geier das Umweltmedium
Wasser keine große Rolle spielt, zeigt die Untersuchung, dass unerwartete Belastungspfade unter Umständen
zu fatalen ökotoxischen Wirkungen in der Umwelt führen können.51
Dass Mikroverunreinigungen insbesondere durch Arzneimittel ein ernstzunehmendes Problem für die Um-
welt und insbesondere für Gewässer darstellen, wurde von der Politik grundsätzlich bereits anerkannt. So stellt
die Europäische Union in den Erwägungsgründen zur Richtlinie 2013/39/EU52 fest: »(1) Die chemische Ver-
schmutzung von Oberflächengewässern stellt eine Gefahr für die aquatische Umwelt dar, die zu akuter und
chronischer Toxizität für Wasserlebewesen, zur Akkumulation von Schadstoffen in den Ökosystemen, zur Zer-
störung von Lebensräumen und zur Beeinträchtigung der biologischen Vielfalt führen kann, sowie für die
menschliche Gesundheit dar. ... (15) Die Kontamination des Wassers und des Bodens mit Arzneimittelrück-
ständen ist ein zunehmend auftretendes Umweltproblem.«
In Deutschland hat sich die Bund/Länder-Arbeitsgemeinschaft Wasser (LAWA, das Koordinierungsgre-
mium der Umweltministerien der Länder und des Bundes für den Bereich Wasser) seit 2014 mit dem Thema
Mikroschadstoffe näher beschäftigt und einen Bericht vorgelegt, der im März 2016 von der Umweltministerkon-
ferenz beschlossen wurde. Darin stellt die LAWA (2016) bereits erste Überschreitungen von Umweltqualitätsnor-
men (UQN) fest, die nach Vorgaben der Richtlinie 2000/60/EG53 abgeleitet wurden, allerdings bisher nur Vor-
schlagscharakter haben: »Wie Gewässeruntersuchungen und durchgeführte Modellierungen zeigen, weist das breit
angewandte Schmerzmittel Diclofenac in Bezug auf den ökotoxikologisch abgeleiteten UQN-Vorschlag in Ab-
hängigkeit des Anteils an gereinigtem Abwasser weitverbreitet Überschreitungen in deutschen Fließgewässern
auf. In deutlich geringerem Ausmaß werden Überschreitungen von UQN-Vorschlägen durch die Wirkstoffe Cla-
rithromycin und in Einzelfällen auch durch Sulfamethoxazol in Fließgewässern mit extrem hohem Abwasseranteil
festgestellt. Bei Carbamazepin wird in konventionell gereinigtem Abwasser eine Konzentration im Bereich des
UQN-Vorschlags vorgefunden, sodass Überschreitungen in kleinen Gewässern mit extrem hohem Abwasseranteil
nicht ausgeschlossen werden können.«
Die LAWA (2016) konstatiert zugleich, dass bisher nur für wenige Human- bzw. Tierarzneimittelstoffe
ökotoxikologisch abgeleitete Bewertungsmaßstäbe entwickelt wurden. Falls in Zukunft weitere Umweltquali-
tätsnormen festgelegt würden, müsste man dementsprechend damit rechnen, dass weitere Grenzüberschreitun-
gen festgestellt würden.Drucksache 19/ 16430
– 54 –
Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode
3.3.2
Langzeit- und Niedrigdosiswirkungen
Es gibt eine Reihe von Studien, bei denen die Unterschiede zwischen akuten und chronischen Wirkungen im
Fokus stehen. Sie stimmen darin überein, dass chronische Wirkungen schon bei deutlich niedrigeren Konzent-
rationen bzw. Dosen auftreten können, und es zeigte sich bei einigen Pharmaka, dass deren chronische Wirkun-
gen teilweise um mehrere Größenordnungen stärker waren als deren akute Wirkungen.
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›
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Der SRU (2007) führt aus, dass das Antiepileptikum Carbamazepin, das Schmerzmittel Diclofenac und der
Lipidsenker Clofibrinsäure bei Krustentieren und Fischen bei einer Exposition über 96 h in Konzentratio-
nen von 35 bis 1.000 mg/l akut wirksam waren. Bei einer Verabreichung über 7 bis 21 Tage zeigten diese
Substanzen aber schon in deutlich geringeren Konzentrationen von 0,005 bis 25 mg/l chronische Wirkun-
gen.
Der SRU (2007) weist weiter darauf hin, dass in der Umwelt auftretende Konzentrationen von Antibiotika
und Steroidhormonen im Test auf Bakterien zwar keine akute Wirkung zeigten, bei Langzeitexposition aber
durchaus. In Bezug auf Hormone könnte dies auch für die Gesundheit des Menschen relevant sein, da en-
dokrin wirksame Stoffe auch Metabolismus, Wachstum und Virulenz pathogener Bakterien beeinflussen
können (García-Gómez et al. 2012).
Galus et al. (2013) stellten fest, dass umweltrelevante Konzentrationen von vier Arzneimitteln bei chroni-
scher Exposition von Zebrafischen deren Entwicklung sowie mehrere Organsysteme beeinflusst. Beobach-
tet wurden Auswirkungen auf die Fortpflanzung und die Histologie von Leber und Niere. Eine geringe
Exposition gegenüber 500 ng/l der getesteten Stoffe erhöhte die Sterblichkeit von Zebrafischembryos.
Eine umfassende Übersicht von Boxall et al. (2012) zeigt die Unterschiede in den Wirkungen von neun
Arzneimitteln gegenüber Fischen und Wirbellosen anhand sechs verschiedener Endpunkte, nämlich
(Abb. 3.2):
1.
2.
3.
4.
5.
6.
akute Wirkung
chronische Wirkung
biochemische Reaktionen
histologische Veränderungen
physiologische Effekte
Verhaltenseffekte
Effekte im Hinblick auf die Endpunkte 2 bis 6 können bereits bei Konzentrationen auftreten, die um bis zu
sechs Größenordnungen niedriger liegen als die Konzentrationen, bei denen akute Effekte (Endpunkt 1)
auftreten. Die Bedeutungen der mit den Endpunkten 2 bis 6 gemessenen Wirkungen für das Überleben von
Populationen und für Ökosystemfunktionen sind wenig bekannt. Es wäre wichtig, diese Beziehungen bes-
ser zu verstehen, um das Risiko für aquatische Ökosysteme besser abschätzen und bewerten zu können.
54
Ausnahmen sind die sogenannten Prodrugs, die sich dadurch auszeichnen, dass bei ihnen die Metaboliten die Wirksubstanz sind.
Fa
Für eine Reihe anderer Arzneistoffe, wie z. B. bei vielen Impfstoffen, können Umweltrisiken aufgrund ihrer
niedrigen Persistenz in der Umwelt oder der geringeren Ökotoxizität der Verbindungen eher vernachlässigt
werden. Eindeutige Effekte sind für sie nur in Konzentrationen zu erwarten, die deutlich oberhalb von in der
Umwelt nachgewiesener Konzentrationen liegen. Daher ist derzeit das Umweltrisiko als gering bis vernachläs-
sigbar anzusehen (BIO Intelligence Service 2013).
In ähnlicher Weise stellt der SRU (2007) fest, dass in der Regel die anhand von akuten Toxizitätstests für
aquatische Organismen ermittelten Wirkschwellen deutlich höher sind als die in der Umwelt gemessenen Stoff-
konzentrationen. Dies gilt allerdings nicht für die Wirkung von Antibiotika auf Umweltbakterien und für die
Wirkung von Steroidhormonen auf aquatische Organismen (SRU 2007).
Die Wirkungen von Metaboliten können sich deutlich von denen der Ausgangssubstanz unterscheiden. Die
vielen Metaboliten von Humanarzneimitteln sind zwar weitgehend bekannt, ihre ökotoxischen Wirkungen je-
doch kaum, u. a. weil keine Reinsubstanzen der Metaboliten verfügbar sind, die für Tests erforderlich wären.
Bei den Tierarzneimitteln sind nur die Metaboliten der Tetracyclingruppe gut untersucht (Bergmann et al.
2011). Obwohl Metaboliten von Pharmaka in der Regel ökotoxikologisch weniger wirksam sind als die Aus-
gangssubstanz,54 kann das nicht verallgemeinert werden; beispielsweise sind für Pestizide Fälle bekannt, bei
denen es sich umgekehrt verhält (Boxall et al. 2012).Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode
Wirkkonzentrationen von Arzneimitteln in biologischen Endpunkten
1.000
100
10
1
0,1
0,01
0,001
0,0001
0,00001
Quelle:
3.3.3
Oxytetracycline
Naproxen
0,000001
akute Wirkung histologische Veränderungen
chronische Wirkung Verhaltenseffekte
biochemische Reaktionen physiologische Effekte
Boxall et al. 2012
Hormonelle Wirkungen
Viele Arzneistoffe mit hormonellen Wirkungen sind problematisch für die Umwelt. Beispielsweise können sie
schon bei äußerst geringen Konzentrationen die Geschlechtsorgane männlicher Fische verändern (Kap. 2.3.1).
In der Folge können die Tiere sich nicht mehr fortpflanzen; die Populationen werden geschwächt oder brechen
gar zusammen. Zwar liegen die in der Umwelt gemessenen Konzentrationen endokriner Stoffe in der Regel
niedriger als deren Effektschwellen, es gibt aber auch Ausnahmen z. B. im Abstrom von Klärwerken oder in-
tensiv genutzten Weiden. Weil endokrin wirksame Stoffe auch auf Wachstums- und Entwicklungsprozesse wir-
ken, ist auf die chronischen Wirkungen ein besonderes Augenmerk zu legen.
›
›
Die lebenslange Exposition von Zebrafischen mit 5 ng/l Ethinylestradiol hatte einen starken Einfluss auf
den Fortpflanzungserfolg – und dies bei einer Konzentration, die mindestens eine Größenordnung niedriger
war als bei Kurzzeittests. Die Empfindlichkeit der Fische gegenüber endokrinen Stoffen kann in den ver-
schiedene Fortpflanzungs- und Entwicklungsstadien unterschiedlich sein und hängt zudem von Dauer und
Zeitpunkt der Exposition ab (Nash et al. 2004).
1,6 mg/l Ethinylestradiol führten zu einer akuten (96 h) Sterblichkeit in Höhe von 50 % bei einem Süßwas-
serfisch, aber schon 10 ng/l chronisch (21 d) führten zu Veränderungen im Hormonhaushalt – das ist eine
um den Faktor 160.000 geringere Konzentration. Die gleiche Konzentration führte bei einer anderen Fisch-
art nach vier Wochen zu krankhaften Gewebeveränderungen in Leber und Niere von Larven und Jungtieren.
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Abb. 3.2
Drucksache 19/ 16430
– 55 –Drucksache 19/ 16430
›
Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode
Verlängerte man die Exposition auf mehrere Monate, beobachtete man bei noch niedrigeren Konzentratio-
nen (5 ng/l, 210 d) eine Störung der Eiproduktion des Nachwuchses der Fische. Bei Schnecken wurde ab
1 ng/l (180 d) Imposex beobachtet, d. h. die Ausbildung weiblicher Geschlechtsorgane bei männlichen Tie-
ren und umgekehrt (SRU 2007).
Laurenson et al. (2014) zeigen auf, dass die langfristigen voraussichtlichen Umweltkonzentrationen
(Kap. 3.1.2) von Ethinylestradiol (EE2) in mehr als 99 % der untersuchten Oberflächengewässer in den
USA stromab von Kläranlagen niedriger waren als eine aquatische PNEC von 0,1 ng/l. Ähnliche Ergebnisse
ergaben sich für andere pharmazeutische Östrogene, also trotz der entsprechenden Laborergebnisse ist der-
zeit keine Gefährdung der Fischpopulationen durch EE2 erkennbar.
Säfholm et al. (2014) stellen fest, dass auch Gestagene in umweltrelevanten Konzentrationen (1 und 10 ng/l)
reproduktionstoxisch auf Amphibien wirken.
3.3.4
Neurotoxische Wirkungen
Bei Pflanzenschutzmitteln und Bioziden wurde festgestellt, dass sie bei Fischen z. B. in der Leber akkumulieren,
Nervenzellen oder Nervengewebe schädigen können oder das Schwimmverhalten negativ verändern (z. B.
Deka/Mahanta 2016). Grundsätzlich kann eine Gefahr für Fische und andere aquatische Lebewesen auch von
Rückständen von Neuropharmaka in Gewässern ausgehen. Es wurden hierfür in der Literatur aber bisher keine
empirischen Belege gefunden.
3.3.5
Umweltwirkungen von Zytostatika
Allgemein gibt es zu den Wirkungen von Zytostatika auf die Organismen in der Umwelt nur wenige Veröffent-
lichungen (Booker et al. 2014). In diesen wird wiederum nur eine kleine Zahl an Wirkstoffen behandelt (Küm-
merer et al. 2016).
›
Im Rahmen des Projekts »Pharmas« (2012) wurden akute und subakute toxische Wirkungen dreier Zytos-
tatika (5-Fluorouracil, Cyclophosphamide und Cisplatin) auf Algen, Wasserflöhe, Zebrafische (Adulte und
Embryos) untersucht. Es zeigte sich, dass das Zytostatikum Cisplatin in einer frühen Entwicklungsphase
Embryonen von Zebrafischen und das Schlüpfen der Jungtiere beeinflusst. Für das Zytostatikum 5-Flu-
orouracil (5-FU) wurden Auswirkungen bei erwachsenen Fischen bei Konzentrationen beobachtet, die nied-
riger lagen als sie bei Embryonen und Larven gemessen werden konnten, was auf höhere Anfälligkeit der
erwachsenen Fische schließen lässt. Allerdings konnten diese Effekte erst bei Konzentrationen von mehre-
ren Hundert μg/l oder sogar mehreren mg/l festgestellt werden, die weitaus höher liegen als diejenigen, die
in europäischen Gewässern bisher gemessen wurden (Pharmas 2012).
Dieses Ergebnis könnte als Indiz dafür gewertet werden, dass von Zytostatika zumindest im Moment noch keine
Umweltrisiken ausgehen. In anderen Studien, bei denen mit anderen Endpunkten, also das Umweltrisiko auf an-
dere Weise zu messen versucht wurde, kommt man zu kritischeren Einschätzungen:
› Im Projekt »Cytothreat« (Filipic 2013) wurden komplette Lebenszyklen von Zebrafischen beobachtet. Es
zeigten sich genotoxische Effekte bei deutlich geringeren Konzentrationen als im Projekt »Pharmas« (2012).
Die Effekte traten schon bei Konzentrationen ab 10 μg/l auf. Bei Wasserflöhen wurde eine signifikante Ver-
ringerung der Fortpflanzung durch vier Zytostatika in Konzentrationen von einigen Hundert ng/l bis μg/l be-
obachtet, während eine signifikante Erhöhung der DNA-Schäden bei noch niedrigeren Konzentrationen be-
reits nach 24 Stunden für alle vier Stoffe gefunden wurde. Eine chronische Zwei-Generationen-Toxizitätsstu-
die zeigte zudem histopathologische Veränderungen in Leber und Nieren, Induktion der Mikrokerne55 in
Blutzellen und Veränderungen der Genexpression in der Leber von Fischen, die nur 10 ng/l des Zytostatikums
5-FU ausgesetzt waren. Hieraus ergaben sich hohe PEC/PNEC-Verhältnisse von 37 bzw. 232, die deutlich
über dem kritischen Wert von 1 lagen (Kap. 3.1.2), sodass das Umweltrisiko als vertretbar angesehen werden
kann und keine Maßnahmen erfolgen müssen.
› In Untersuchungen von Parrella et al. (2014) traten akute ökotoxische Effekte von Zytostatika bei Kon-
zentrationen im mg/l-Bereich auf, am stärksten für Cisplatin und Doxorubicin. Bei den chronischen Tests
zeigten Cisplatin und 5-FU für alle Testorganismen das höchste toxische Potenzial bei einer Konzentration
in der Größenordnung von μg/l. Die in den Tests festgestellten niedrigen effektiven Konzentrationen deuten
55
Das Auftreten von Mikrokernen in Zellen ist ein Hinweis auf Schäden im genetischen Apparat.
Fa
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